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„Jeden Tag rufen uns Eltern an, die verzweifelt sind“

Süddeutsche Zeitung, München

Philipp Schoof ist Kinder- und Jugendarzt in München, Kinder-Rheumatologe und Obmann des Berufsverbands für Kinder- und Jugendärzte.

SZ: Viele Eltern klagen, dass sie keinen Termin bei einem Kinderarzt bekommen oder lange warten müssen. Nehmen Sie noch neue Kinder in Ihrer Praxis auf?

Philipp Schoof: Wir haben noch keinen Aufnahmestopp, aber es ist kaum mehr zu stemmen. Jeden Tag rufen uns Eltern an, die verzweifelt sind, weil sie keinen Kinderarzt finden, der die Vorsorgeuntersuchung U3 für ihr Baby macht. Wir bringen es nicht übers Herz, sie einfach abzuweisen. Aber wir kommen an unsere Grenzen. Das lässt sich nur dadurch regeln, dass unsere Mitarbeiter und ich abends oft erst um 23 Uhr nach Hause kommen. Meine drei Kinder sehe ich kaum. Das ist unbefriedigend. Wenn es so weitergeht, dann müssen wir auch einen Aufnahmestopp einführen. Wir brauchen dringend mehr Kinder- und Jugendärzte in München.

Stellen Sie doch noch einen Kollegen ein.

Das würde ich ja gerne. Aber das darf ich nicht. Die Bedarfsplanung sagt, dass München überversorgt ist mit Kinderärzten. Es ist ein völlig absurdes System.

Der Versorgungsgrad liegt in München bei 130 Prozent.

Das ist ein Witz. Bei mir stehen die Patienten täglich Schlange bis auf den Flur. Und bei den Kollegen ist es genauso. Die Bedarfsplanung ist von 1992. Damals hat Horst Seehofer als Gesundheitsminister den Versorgungsbedarf festgelegt. Doch der ist vollkommen überholt. Die Versorgung ist viel umfangreicher geworden. Bei einem Baby haben sie im ersten Jahr allein vier Vorsorgeuntersuchungen, die U3 bis U6. Hinzu kommen die ganzen Impfungen, die mehr geworden sind. Seit Januar sind auch noch neue Untersuchungsschritte innerhalb der Vorsorgen im Vorschulbereich hinzugekommen. Diese Problematik betrifft alle Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. In München ist es besonders brisant, weil die Stadt so stark wächst und die Geburtenrate so rasant steigt. 

Sie sind nicht nur Kinderarzt, sondern auch noch Facharzt für Kinder-Rheumatologie. Trotzdem machen Sie auch alle regulären Untersuchungen und Impfungen?

Ich bin momentan der einzige niedergelassene Kinder-Rheumatologe mit Kassensitz in München, wir haben ewig lange Wartelisten. Aber ich zähle in der Statistik auch als normaler Kinderarzt, der versorgen soll. Morgens mache ich die Notfallpatienten, nachmittags Vorsorgeuntersuchungen und abends die Rheumapatienten. Danach kommt noch all das, was wir abrechnen und dokumentieren müssen. Innerhalb eines Quartals haben mein Kollege und ich insgesamt etwa 100 Vorsorgeuntersuchungen der U3. Und diese Kinder brauchen auch alle eine U4, U5, U6 und so weiter. Sie brauchen Impfungen, sie kommen mit Krankheiten. Hinzu kommen noch Eltern, die Krankschreibungen brauchen und Kitas, die Atteste einfordern. 

Oberbürgermeister Dieter Reiter hat Ende November einen Brief an die Kassenärztliche Vereinigung geschrieben, in dem er fordert, die kinderärztliche Versorgung in München zu verbessern.

Die Kassenärztliche Vereinigung setzt ja auch nur um, was ihr das Gesetz sagt. Es sind die Krankenkassen und die Politik, die daran etwas ändern müssten. Die Bedarfsplanung muss eiligst an die Realität angepasst werden. In anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg öffnen sich die Kassenärztlichen Vereinigungen bereits in die richtige Richtung. In München haben wir einen Mangelzustand, doch die Kassen wollen nicht mehr Geld dafür ausgeben. Zudem werden auch die Kollegen voll mitgerechnet, die gar nicht Vollzeit arbeiten. Und wir versorgen auch unzählige Patienten, die aus dem Umland kommen. Das wird bei der Bedarfsplanung gar nicht beachtet. Ein weiterer Knackpunkt ist, dass in der Pädiatrie die nachkommenden Ärzte vor allem Frauen sind. Die müssen und sollen sich aber auch um ihre eigenen Kinder kümmern. Und auch die Männer der neuen Generation sehen ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr in der Maloche, sondern wollen ihre Familien unterstützen. Weil aber in München meist beide Elternteile arbeiten, wollen die Patienten am liebsten abends Termine haben. Und in München sind die Ärzte sehr ungleich über das Stadtgebiet verteilt. Das ist alles ein Riesenproblem. Wenn da nicht etwas passiert, dann knallt es. 

In der Messestadt Riem gibt es beispielsweise keinen Kinderarzt. Was kann die Kommune machen, um die ungleiche Situation zu verbessern?

Die Stadt baut neue Viertel, aber sie schafft keine attraktive Infrastruktur, wie angemessene Mieten, damit auch ein Kinder- und Jugendarzt sich niederlässt, wie in Riem. Wir haben im Prinz-Eugen-Park angefragt, bei einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Es gab auch attraktive Räume. Aber für 21 Euro der Quadratmeter! Das ist wirtschaftlich nicht machbar. Wir können ja nicht einfach die Preise erhöhen. Die Kassenärztliche Medizin ist gedeckelt. Wir bekommen dasselbe Geld wie in der Oberpfalz. Und wir haben ein festgeschriebenes Kontingent: Wenn Sie länger arbeiten, als das Tagespensum vorsieht, dann werden Sie dafür regressiert. 

Wer viel arbeitet, wird auch noch bestraft?

Wenn Sie mehr arbeiten, als das Zeitkontingent erlaubt, dann müssen Sie Regress zahlen. Für eine am Patienten erbrachte Leistung. Es wird ja immer gejammert, dass die Ärzte nicht in Problemviertel gehen. Aber es stimmt so nicht. Es gibt sehr viele sozial engagierte Kollegen. Aber wir müssen uns ja auch finanzieren. Und über uns hängt ständig das Damoklesschwert, dass ich dafür bestraft werde, dass ich so viel arbeite. Gleichzeitig steigt aber ständig die Zahl der Kinder und der Aufgaben. In Riem überlegen wir gemeinsam mit dem Referat für Gesundheit und Umwelt mit engagierten freiwilligen Kollegen eine Bereitschaftspraxis zu installieren, um wenigstens den dringendsten Bedarf zu decken.

Sie bekommen die gleiche Pauschale, egal wie oft der Patient im Quartal zu Ihnen kommt?

Wir bekommen für das ganze Quartal eine Pauschale von rund 30 Euro. Bei Kleinkindern rund 40 Euro. Egal, ob Sie einmal im Quartal kommen oder drei Monate lang zweimal in der Woche. Hinzu kommt noch eine Gebühr, für einen Gelenkultraschall sind das acht Euro, oder für ein Gespräch, das sind neun Euro, die Sie aber größtenteils auch nicht jedes Mal berechnen können. Spitzenreiter sind Patienten, die 25 Mal im Quartal kommen. Es geht ja nicht darum, dass man sich dumm und dämlich verdient. Sondern darum, dass man für den Aufwand, den man betreibt, eine angemessene Bezahlung erhält.

Da bleibt nicht mehr viel Zeit für das einzelne Kind?

Man wird ja nicht Kinderarzt, weil man im Akkord arbeiten will. Wenn Sie so einen Beruf ergreifen, dann wollen Sie sich mit dem Kind gut verstehen und ihm helfen. Allein um ein Kind abzuhören, brauchen Sie aber viel länger als bei einem Erwachsenen, weil es sich vielleicht mit zwei Jahren nicht ohne Weiteres abhören lässt. Bei einer Kinderuntersuchung sind schnell 20 Minuten rum. Das ist natürlich völlig unökonomisch. Und dann bekommen die Ärzte immer den Schwarzen Peter. Und Eltern beschweren sich, weil sie lange auf einen Termin warten müssen. Dabei bieten wir sogar samstags noch eine Notfall-Sprechstunde an, damit unsere Patienten nicht mit ihrem Baby in die Bereitschaftspraxen gehen müssen. Da arbeiten wir quasi zum Nulltarif. Ein Betriebswirt würde so etwas nie machen. Das ist sehr frustrierend, weil man eigentlich als Arzt ja richtig Kranken helfen will. Wir beschäftigen uns viel zu kurz mit den richtig Kranken, weil wir gefangen sind in den Rahmenbedingungen.