Foto: Helmut Hofer/DGzRS

SOS in der Nordsee

Süddeutsche Zeitung, Mobiles Leben

Michael Ulrichs lenkt das kleine Rettungsboot Emmi gekonnt durch die Wellen und beschleunigt auf 23 Knoten. Die Gischt der Nordsee spritzt ihm ins Gesicht. Rechts erhebt sich die Silhouette von Norderney aus dem Meer, die Uferpromenade, der Weststrand. Links ragt der östlichste Zipfel der Insel Juist ins Wasser. Es ist Ebbe, auf den Sandbänken fläzen sich die Seehunde, und das feuchte Watt glänzt in der Sonne. Hier zwischen den Ostfriesischen Inseln scheint die rettende Küste nie weit entfernt zu sein. Doch die Nordsee kann tückisch sein.

Ulrichs kennt ihre Launen, die Untiefen und gefährlichen Brandungszonen, er ist auf Norderney aufgewachsen und arbeitet seit fast 40 Jahren als Seenotretter auf dem Meer. Er weiß, wie schnell der Wind drehen kann, wie stark die Strömung ist und wie sich eben noch harmlose Wellen in eine lebensgefährliche Naturgewalt verwandeln können.

„Dort drüben, der Pegelturm“, ruft Ulrichs und drosselt die Geschwindigkeit, deutet auf einen dicken Pfahl, der aus dem Meer ragt und an dem eine Metallleiter befestigt ist. Ein Surfer hatte Probleme mit seinem Kite und kletterte dort hinauf. Zwei Seemeilen südlich vom Norderneyer Weststrand. Mehr als drei Stunden musste der Wassersportler dort oben ausharren, völlig erschöpft, bis man ihn am Strand vermisste, die Seenotretter alarmiert wurden und Ulrichs mit seinen Kollegen ihn retteten.

„Und dort“, Ulrichs zeigt zwischen den beiden Inseln hindurch, wo eine weiße Linie aus Gischt das Meer durchschneidet, „das ist eine gefährliche Brandungszone.“ Anfang Mai erst kenterte an der Stelle ein Segelboot auf einer Sandbank. Die Seenotretter fischten die beiden Segler aus dem Meer; sie überlebten, aber ihr Boot war nur noch ein Wrack. „Und im vergangenen Herbst hat sich hier in der Brandung eine Gaffelketsch auf einer Sandbank festgefahren.“ Ein Segelboot mit zwei Masten, der Rumpf aus Holz, an Bord zwei Erwachsene und zwei Kinder. Es herrschte Nordwind Stärke fünf und ein Seegang von bis zu zwei Metern. Das Segelboot war bereits bis zur Hälfte mit Wasser vollgelaufen, als die Seenotretter es erreichten. Sie konnten die vier Menschen an Bord der Emmi ziehen; das Boot der Urlauber indes wurde von den Wellen zerfetzt. „Sandbänke können hart wie Beton sein“, sagt Ulrichs.

Wer sich aufs Meer begibt, vertraut darauf, dass im Notfall schon jemand kommt. Jemand wie Ulrichs, ausgestattet mit sturmsicheren Schiffen, der sich auskennt auf dem Wasser, der den Wellen trotzt und weiß, wie man Menschen aus den Fluten zieht, Schiffe abschleppt, Erste Hilfe leistet und Feuer löscht. Jemand, der schnell handelt, denn auch auf dem Wasser ist ein Notfall fast immer ein Wettlauf gegen die Zeit.

„Es kann jeden treffen“, sagt Ulrichs. Nicht nur die Wassersportler, die mit ihren Surfbrettern, Kite-Ausrüstungen oder Segelschiffen abgetrieben werden. Oder die Leichtsinnigen, die sich bei Sturm und schlechter Sicht noch auf das Meer wagen. Ulrichs hat im Meer schon nach Überlebenden in Flugzeugwracks gesucht, er hat Wattwanderer eingesammelt, die von der Flut überrascht wurden, Fischerboote auf den Haken genommen, deren Maschinen nicht mehr liefen, und Feuer auf Handelsschiffen gelöscht. Selbst auf den breiten Fähren, die täglich zwischen dem Festland und den Ostfriesischen Inseln hin- und herpendeln, war er schon im Einsatz, wenn sie bei Ebbe auf einer Sandbank festsaßen.

Ulrichs dreht mit der Emmi eine Kurve und steuert auf den Rettungskreuzer Hans Hackmack zu, der in der Fahrrinne wartet. Emmi ist ein Beiboot, das hinten auf dem 23,1 Meter langen Rettungskreuzer befestigt wird. In Notfällen ist es leichter zu manövrieren, kann auch in flacheren Gewässern eingesetzt werden, und durch eine Bergungspforte an der Seite lassen sich Schiffbrüchige auf Höhe der Wasserlinie an Bord nehmen. Am Heck des großen Rettungskreuzers öffnet Maschinist Jörg Grafunder eine Klappe, Ulrichs steuert die Emmi hinein. Es wackelt, es ruckelt, dann ist das Beiboot eingerastet und schwere Ketten ziehen es nach oben.

Seit fast 160 Jahren fahren die Seenotretter raus, wenn andere reinkommen, so lautet das Motto der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Man könnte aber auch sagen: Sie fahren raus, wenn andere nicht mehr reinkommen. Denn die meisten Notrufe erreichen die Seenotretter nicht mehr wie früher in der kalten Jahreszeit, wenn besonders viele Winterstürme über der Nord- und Ostsee toben, wenn Berufsfischer in Not geraten oder auf den großen Schiffen ein Notfall eintritt. Mittlerweile sind sie besonders stark in den Sommermonaten gefordert, wenn die Urlauber in ihren Segelbooten an den Inseln vorbeischippern und auf Sandbänke auflaufen. Wenn Stand-up-Paddler oder Surfer sich verletzen, überschätzen oder – schlicht – das Meer unterschätzen.

Rund um die Uhr im Einsatz

Auf insgesamt 55 Stationen entlang der Nord- und Ostsee sind 180 hauptberufliche und 800 freiwillige Seenotretter an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr im Einsatz – Frauen sind immer noch eine Minderheit, es gibt 74 freiwillige Seenotretterinnen, unter den Festangestellten ist bislang keine. Seit der Gründung im Jahr 1865 haben die DGzRS-Leute etwa 86 300 Menschen gerettet. Häufig riskieren sie dabei auch ihr eigenes Leben, 45 von ihnen sind bei Einsätzen gestorben.

Ulrichs hat als Freiwilliger bei den Seenotrettern auf Norderney angefangen. Eigentlich hatte er nie vorgehabt, das Ehrenamt zum Beruf zu machen, er war gelernter Klempner, doch als eine Stelle frei wurde, schickte sein Team für ihn die Bewerbung ab und er erhielt die Zusage. Bereut hat es Ulrichs nie. Er kann sich keinen schöneren Beruf vorstellen. Nur einmal hat er gezweifelt. Nach dem Unglück in der Neujahrsnacht 1995, als vier Seenotretter der Station Borkum rausfuhren, um einen Schiffbrüchigen zu retten. Es war sehr stürmisch, die vier Männer aus Borkum gerieten selbst in Not. Eine gewaltige Welle brachte ihren Rettungskreuzer zum Kentern, er richtete sich zwar wieder auf, war aber manövrierunfähig.

Die Crew aus Norderney, zu der Ulrichs damals schon gehörte, machte sich sofort auf den Weg, um die Kollegen zu retten. Die Wellen waren bis zu acht Meter hoch, es war fast unmöglich, den manövrierunfähigen Rettungskreuzer zu erreichen. Schließlich gelang es ihnen, das Schiff an den Haken zu nehmen und an einer Leine hinter sich her zu schleppen. „Als wir endlich zu ihnen konnten, sahen wir, dass nur zwei der vier Männer an Bord waren“, erzählt Ulrichs. Drei Tage lang haben sie nach den beiden vermissten Rettern gesucht. Vergeblich. Wenn Ulrichs davon erzählt, spürt man, dass ihn die Erinnerungen immer noch aufwühlen.

Manchmal bleibt es tagelang ruhig an Bord. Aber sobald es in den Lautsprechern knistert, die in jedem Raum in der Decke installiert sind, und ein Notruf über Kanal 16, den internationalen Not- und Anrufkanal, eingeht, sind sie sofort bereit. Dann wird …

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