„Diese mutigen Frauen haben Geschichte geschrieben“

Süddeutsche Zeitung, Wirtschaft

Gün Tank, 47, kommt mit dem Zug aus Berlin, sie ist auf Lesereise, um ihren Roman „Die Optimistinnen“ vorzustellen. Darin erzählt sie die vergessene Geschichte von Gastarbeiterinnen, die in den 1970er-Jahren in die Bundesrepublik kamen. Tank schlägt vor, sich für das Interview in der Stadtbibliothek Nordhorn zu treffen, wo sie später auch ihre Lesung hält. Die niedersächsische Kleinstadt ist stark geprägt von drei ehemals großen Textilfabriken und vielen Arbeitsmigranten. Interessant sei, sagt Tank, dass die Stadt sogar eine Straße nach einer portugiesischen Betriebsrätin benannt habe.

SZ: Gün Tank, reden wir über Geld. Sie haben ein Buch über Frauen geschrieben, die als Gastarbeiterinnen kamen und für faire Löhne kämpften. Warum wird so wenig über diese Frauen gesprochen?

Gün Tank: Das wundert mich auch immer wieder. Wenn wir uns Bilder und Dokumentationen über die Arbeitsmigration anschauen, sehen wir fast nur Männer. Die Frage ist, wer schreibt Geschichte, wer darf davon erzählen und wer bestimmt, welche Bilder nach außen getragen werden. Und das waren vor allem Männer.

Dabei arbeiteten 1973 bereits mehr als 700 000 ausländische Frauen in der Bundesrepublik.

Ein Drittel aller sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter waren Frauen. Deutsche Unternehmen warben im Ausland sogar gezielt um Frauen, weil sie billigere Arbeitskräfte waren und gern für die Feinarbeiten eingesetzt wurden. Außerdem ging man davon aus, dass sie besser zu lenken seien.

Was ein Irrtum war?

Ja, viele der Frauen sind allein aus der Türkei, aus Spanien, Griechenland und anderen Ländern gekommen. Das waren starke Frauen, sie haben hier gearbeitet, für sich selbst gesorgt und oft auch noch ihre Familien ernährt. Das hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass sie so selbstbewusst waren. Die Ungerechtigkeiten, die sie dann in den deutschen Betrieben erlebten, haben sie so geärgert, dass sie sich zusammengeschlossen haben und sich wehrten. Und das zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik Männer ihren Ehefrauen noch laut Gesetz verbieten durften zu arbeiten – und nicht einmal ein Drittel der westdeutschen Frauen berufstätig war.

In Ihrem Roman organisieren Gastarbeiterinnen Streiks und fordern das gleiche Gehalt wie die Männer. Waren sie letztlich nur eine kleine Minderheit?

Nein. Das klassische Bild, das wir von den sogenannten Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen haben, ist das eines unpolitischen Menschen, der im besten Fall hier arbeitet und wieder geht. 1973 gab es in der Bundesrepublik mehr als 300 sogenannte wilde Streiks, also nicht von den Gewerkschaften organisiert. In diesen Streiks waren nicht nur, aber vor allem migrantische Frauen aktiv und hatten oft führende Rollen. Sie haben, zumindest in einem Betrieb, die Abschaffung der Leichtlohngruppe erreicht.

Leichtlohngruppe?

Der Tarif galt seit den 1950er-Jahren für Menschen, die vermeintlich leichtere Tätigkeiten verrichteten. Die Leichtlohngruppe wurde aber nur für Frauen angewandt. Sie erhielten dadurch oft für die gleiche Arbeit 30 bis 40 Prozent weniger Gehalt als die Männer. 1973 gelang es durch einen Streik beim Automobilzulieferer Pierburg, den Betrieb stillzulegen. Angeführt wurde der Protest von migrantischen Arbeiterinnen. Mit Erfolg. Pierburg war der erste Betrieb, der die Leichtlohngruppe aufhob. Ganz abgeschafft wurde sie erst in den 1980er-Jahren. Aber oft ändern sich nur Namen und Inhalte bleiben gleich.

Meinen Sie den Gender-Pay-Gap?

Ja. Noch heute verdienen Frauen bei gleicher Arbeit weniger, oder sie sind in Bereichen tätig, die schlechter bezahlt werden und als vermeintlich leicht gelten. Care-Arbeit zum Beispiel wird immer noch vor allem von Frauen geleistet und ist schlecht bezahlt. Ich habe vierjährige Zwillinge, und wer behauptet, Erzieher oder Erzieherin zu sein, wäre ein einfacher Job, hat wahrscheinlich noch nie einen Kita-Alltag erlebt.

„Wenn über unsere Mütter, Tanten und Großmütter in Deutschland gesprochen oder geschrieben wird, nennt man sie ‚unterdrückt‘, ‚schwach‘, ‚unselbstständig‘ oder ‚abhängig‘“, heißt es in Ihrem Buch. Wie haben Sie selbst diese Frauen erlebt?

Dieses Bild hat mich ja so wütend gemacht, dass ich angefangen habe zu recherchieren und dann dieses Buch schrieb. Ich selbst habe ganz andere Erfahrungen gemacht. Ich bin in Berlin in einem Frauenkreis groß geworden, der divers und kämpferisch war, und habe viele starke migrantische Frauen kennengelernt. Dann musste ich immer wieder feststellen, dass diese Frauen, die Deutschland mit aufgebaut und verändert haben, in der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt nicht abgebildet werden.

Wie die Hauptfigur Nour kam auch Ihre Mutter aus Istanbul und hat zunächst in einer Fabrik in der Oberpfalz gearbeitet. Erzählen Sie ihre Geschichte?

Meine Mutter hat natürlich die Protagonistin geprägt, weil sie mir nahesteht, aber es sind auch all die anderen Frauen, die ich kennengelernt habe. Frauen, die in der Türkei gearbeitet oder studiert hatten, Frauen, die aus einem spanischen Dorf kamen, Frauen, bei denen das Gehalt des Mannes zu Hause nicht gereicht hat. Nicht alle waren im klassischen Sinne politisch aktiv, aber ich habe sie alle als stark und selbstbewusst erlebt, und diese mutigen Frauen haben Geschichte geschrieben.

Inwiefern waren sie mutig?

Sie sind in ein Land gezogen, das sie nicht kannten, dessen Sprache sie nicht verstanden. Oft ganz allein. Um diesen Schritt zu gehen, muss man schon viel Mut aufbringen. Häufig waren sie auch noch die Ernährerinnen ihrer Familien, was ja auch in ihren Herkunftsländern damals keine Selbstverständlichkeit war. Heute werden Migrantinnen aber fast nur erwähnt, wenn es um Familiennachzug geht, und nicht als eigenständig handelnde Personen. Dabei haben sie bei den Arbeitskämpfen auch viel riskiert, ihre Aufenthaltsgenehmigung war an ihre Arbeitsstelle gebunden. Bei Entlassung wurden sie sofort des Landes verwiesen.

In Ihrem Buch fällt die Türkin Nour in der Oberpfalz auf, weil sie Minirock trägt, während viele der älteren deutschen Frauen lange Kleider und Kopftücher tragen.

Das zeigt doch, dass es nichts über die Frau aussagt, ob sie Kopftuch trägt oder wie sie sich kleidet. Auch eine Frau mit Kopftuch kann stärker sein als eine Frau im Minirock. In Westberlin gab es Ende der 70er-Jahre schon einen Verein von Frauen aus der Türkei, die sehr politisch waren, die bereits Deutschunterricht in den Unternehmen forderten. Aber wenn über migrantische Frauen gesprochen wird, und meistens sind dann muslimische Frauen gemeint, heißt es bis heute, sie seien ungebildet, rückständig und könnten sich nicht wehren.

Woran liegt das?

Einmal bin ich mit Gewerkschafterinnen in die Türkei gefahren, wir haben dort eine feministische Organisation besucht. Plötzlich fingen die deutschen Frauen an, den türkischen Frauen den Feminismus zu erklären. Wir glauben in Deutschland oft, wir seien emanzipiert, und alle Unterdrückungsmechanismen seien importiert. Natürlich gibt es Gewalt in der Ehe, wie es auch in deutschen Familien Gewalt in der Ehe gibt. Aber deswegen gehe ich doch auch nicht davon aus, dass die gesamte deutsche Frauengesellschaft sich unterdrücken lässt.

Sind Sie als Kind in Berlin mit der Frage nach Ihrer Herkunft konfrontiert worden?

Ja, es war ein Thema. Als ich sechs Jahre alt war, fragte ich meine Mutter, was ich sei, weil sie aus der Türkei kam und mein Vater aus Deutschland. Meine Mutter antwortete mir: „Wenn du Vanilleeis isst, welchen Geschmack hast du? Ich sagte: Vanille. Und wenn du Schokoeis isst? Schokolade. Und wenn du beides zusammen isst?“, fragte meine Mutter. Da habe ich mich gefreut, dass ich ein gemischtes Eis war.

Wie haben Sie für Ihr Buch recherchiert?

Das ganze Interview auf

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/reden-wir-ueber-geld-guen-tank-roman-gastarbeiterinnen-1.6328180