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Wenn wirklich jeder Tag zählt

Süddeutsche Zeitung, Politik

Als Adnan Ghnema sein Visum für die Türkei in den Händen hält, kann er zum ersten Mal seit Langem wieder lachen. Es ist ein Visum für das Land, das der 31-jährige Syrer vor fünf Monaten mit einem Schlauchboot über das Meer verlassen hat. Ein Visum, das ihm nun erlaubt, von München nach Ankara zu fliegen und seine zwei kleinen Kinder wiederzusehen. Nach Monaten der Ungewissheit. Man könnte mit Ghnema lachen, wenn dieser Augenblick nicht auch die Absurditäten und Abgründe deutscher Asylpolitik so deutlich vor Augen führen würde.

Es ist das erste Mal, dass Ghnema wieder lacht, seit er über Facebook das Video gesehen hat, das zeigt, wie der syrische Ort Killi bombardiert wird. Und wie der leblose Körper seiner Frau Yasmin aus den Trümmern geborgen wird. Sie war im fünften Monat schwanger. Die Handykamera filmt auch die Leiche der siebenjährige Nichte. Und zeigt, wie sein dreijähriger Sohn, seine fünfjährige Tochter und seine Schwester schreiend und blutüberströmt herausgetragen werden.

Es sind Bilder, die Ghnema nicht mehr loslassen, die ihn Tag und Nacht quälen. Wie versteinert sitzt er auf einem Sofa, Tausende Kilometer entfernt, in einer kleinen Wohnung bei München. Immer wieder schaut er sich den wackeligen Film an, den jemand aufgenommen und ins Netz gestellt hat. Ghnema macht sich Vorwürfe, seine Familie zurückgelassen und eine falsche Entscheidung getroffen zu haben.

Aber was ist schon die richtige Entscheidung, wenn man für seine kleinen Kinder nur zwischen Krieg und einer gefährlichen Flucht über das Meer wählen kann?

Ghnema wollte seine Familie nicht den Schleusern anvertrauen. Der diplomierte Geograf hatte von Vergewaltigungen gehört, von Kinderleichen, die das Meer an Land spült. Er wollte seine Familie auf sicherem und legalem Wege nach Deutschland holen.

Doch am 31. August, als er gerade vier Wochen in Deutschland ist, erfährt er, dass es für seine Frau zu spät ist. Und es wird dauern, bis er seine Kinder wieder sehen kann. Ghnema muss in den kommenden Monaten erfahren, dass ein Familiennachzug ein langwieriges Prozedere ist mit hohen bürokratischen Hürden. Auch wenn es um zwei kleine Kinder geht.

Sein älterer Bruder Mohamed Ghnema wohnt seit vielen Jahren mit seiner Frau im Landkreis München, ihre zwei Töchter sind dort geboren. Ihn quält nicht nur der Schmerz über den Verlust seiner Schwägerin und Nichte und die gefährliche Situation der Familie in Syrien. Ihn quält auch der Gedanke, dass dieser Tod hätte vermieden werden können. „Würden wir in einem anderen Bundesland leben, dann würden die beiden noch leben“, sagt er.

Mohamed Ghnema wollte seine Eltern und Geschwister mit ihren Kindern bereits vor knapp zwei Jahren auf legalem Weg holen. Er stellte im Februar 2014einen Antrag für ein Programm der Bundesregierung. Es ermöglichte Syrern, auf sicherem Weg einzureisen. Doch weil so viele Anträge eingingen, wurden nur noch die bearbeitet, die bis Mitte Februar vorlagen. Die Ghnemas waren einige Tage zu spät dran. Alle Bundesländer erließen daraufhin noch eigene Programme, um Syrer aufzunehmen. Einzige Ausnahme: Bayern.

Doch Mohamad Ghnema wollte nicht aufgeben. Er schrieb Briefe an den bayerischen Innenminister, bat Pro Asyl und den Flüchtlingsrat um Unterstützung und beauftragte einen Anwalt. Das Innenministerium lehnte eine humanitäre Aufnahme ab. Adnan Ghnema sah daher keine andere Möglichkeit, als sich Anfang Juli 2015 auf die illegale Route nach Deutschland zu begeben. Seit seine Familie 2012 ihre Heimatstadt Aleppo verlassen musste, ist sie auf der Flucht. Und als auch in Killi, dem Ort, in dem sie untergekommen waren, immer häufiger Bomben fielen, zahlte Adnan Ghnema mehrere Tausend Dollar an einen Schleuser. Sein Bruder schickte jeden Cent, den er zurücklegen konnte, nach Syrien und nahm einen Kredit auf.

Einen Monat später erreicht Adnan Ghnema München. Er stellt umgehend einen Asylantrag. Wie lange es dauern wird, weiß er nicht. Manche erhalten ihre Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nach wenigen Wochen, andere müssen Monate oder sogar Jahre warten. Als Syrer stehen Ghnemas Chancen nicht schlecht, die Anträge werden oft im Schnellverfahren geprüft.

Dann erhalten sie die Nachricht vom Tod der Frau. Wieder schreiben sein Bruder und der Anwalt Briefe. Sie bitten um ein schnelles Asylverfahren und einen schnellen Familiennachzug. Und darum, dass ihre verletzte Schwester mit ihrem Kind auch nach Deutschland kommen kann. Über Ghnemas Asylantrag wird tatsächlich ungewöhnlich schnell entschieden. Nach gut zwei Monaten erhält er eine Aufenthaltserlaubnis und hat somit den Rechtsanspruch, seine Kinder zu holen.

Dafür muss er in einer deutschen Vertretung eines Nachbarlandes Syriens die Visa beantragen. Doch die sind völlig überlastet. Die Wartezeit für einen Termin im Konsulat in Istanbul beträgt im September laut der Bundesregierung fast 16Monate, in der Botschaft in Ankara mehr als 13 Monate. Die Ghnemas erhalten nach vielen Telefonaten eine Nummer. Wie lange sie damit auf einen Termin in der Botschaft in Ankara warten müssen, wissen sie nicht. Außerdem brauchen sie die Geburtsurkunden der Kinder und die Sterbeurkunden von Adnan Ghnemas Frau. Als der Sohn geboren wurde, waren sie auf der Flucht. Eine Urkunde haben sie nicht. „Und woher sollen wir die Sterbeurkunde bekommen“, fragt Mohamed Ghnema. „Manchmal glaube ich, die deutschen Behörden haben noch nicht begriffen, dass in Syrien Krieg herrscht.“

Adnan Ghnema kann nicht mehr schlafen. Sein Bruder lässt ihn nicht alleine, er macht sich Sorgen, dass Adnan durchdreht vor Angst um seine Kinder. Ende Oktober kreisen über Killi immer häufiger Flugzeuge. Die Kinder schreien und zittern, sobald sie die Motorengeräusche hören, erzählen Ghnemas Eltern über das Internet. Die Schwester ist schwer verletzt worden bei dem Bombenangriff. Für sie ist ein Familiennachzug nicht möglich, er gilt nur für Minderjährige oder Ehepartner. Ghnemas Anwalt stellt einen Härtefallantrag für die anderen Verwandten. Doch das Auswärtige Amt sieht bei der Familie die “ gesetzlichen Voraussetzungen einer humanitären Aufnahme“ nicht erfüllt.

Ende Oktober versucht die Familie aus Syrien in die Türkei zu fliehen. Doch die türkischen Grenzbeamten lassen sie nicht durch. Zwei Tage harren sie an der Grenze aus. Ohne Erfolg. Schließlich kehren sie wieder um nach Killi. Die türkischen Grenzbeamten hätten gesagt, mit einer Einladung bei einer deutschen Vertretung würden man sie in die Türkei lassen, sagen sie. Bei einer Anfrage der SZ beim Auswärtigen Amt (AA) zeigt man sich dort entgegenkommend, dass die Ghnemas in der Botschaft in Ankara einen „zeitnahen“ Termin für die Beantragung der Visa für die Kinder erhalten könnten. Aber zunächst müssten die beiden in die Türkei kommen und über syrische Pässe verfügen, so das AA. Nur in Einzelfällen könne man davon absehen. Doch die Ghnemas sagen, beides sei unmöglich.

Mohamed Ghnema ruft bei der syrischen Vertretung in der Türkei an. Dort wird er weiterverwiesen an „jemanden, der Pässe beschaffen kann“, wie Ghnema berichtet. Er erfährt dass jeder Pass 1100 Dollar kosten soll. „Das ist doch absurd, wenn wir dem Assad-Regime, das meine Familie umgebracht hat, nun auch noch 2200 Dollar zahlen“, sagt er und fragt noch einmal bei der deutschen Botschaft nach. Doch wieder heißt es, die Pässe seien Voraussetzung. Mitte November bittet die SZ beim Auswärtigen Amt um eine Stellungnahme, warum die Ghnemas keinen Termin für die Beantragung der Visa erhalten. Eine halbe Stunde später bekommen die Ghnemas einen Termin. Adnan Ghnema beantragt in München ein Eilvisum, um in die Türkei zu reisen zu dürfen.

Sechs Tage später bekommt er eine Nachricht aus der Türkei. Seine Familie hat es geschafft. Es sei nur mit Schleusern möglich gewesen, pro Person 100 Dollar. Der erste Schlepper sei mit dem Geld verschwunden. Der zweite habe sie nachts in einem vierstündigen Fußmarsch in die Türkei gebracht. Dort können sie zunächst in der Nähe der Grenze bei Freunden unterkommen. Am 8. Dezember erhält Adnan Ghnema sein Visum für die Reise in die Türkei. Er und Mohamed kaufen sich Flugtickets für den 12. Dezember nach Ankara.

Zwei Tage nach ihrem Abflug schicken sie Nachrichten und Fotos aus Ankara: Adnan Ghnema ist wieder mit seinen Kindern zusammen. Es sei das erste Mal seit dem Bombenangriff, dass die beiden wieder lachen, schreiben sie. Und die deutsche Botschaft habe zugesagt, dass die Kinder Visa für Deutschland erhalten. Auch ohne syrische Pässe. Wie es für die anderen Verwandten weitergeht, wissen sie nicht. Besonders um die verletzte und verwitwete Schwester und ihre Tochter machen sie sich Sorgen. „Wenn sie kein Visum erhalten, bleibt mir nichts anderes übrig, als auch sie illegal über das Meer zu schicken“, sagt Ghnema.