Foto: Kay Fochtmann

„Das Bedürfnis ist groß zu erfahren, was wirklich wahr ist“

Süddeutsche Zeitung, Liebe & Leben

An Informationen über Sex herrscht im Netz kein Mangel. Doch weiterhin spielt die Schule bei der Aufklärung eine Rolle, sagt Medienwissenschaftlerin Maria Urban. Ein Gespräch über zeitgemäße sexuelle Bildung.

Interview von Inga Rahmsdorf

SZ: Frau Urban, Kinder kommen heute oft schon in der Unterstufe, manchmal sogar in der Grundschule über das Internet mit Sexualität und Pornografie in Kontakt. Welche Fragen haben sie dann im Sexualkundeunterricht?

Maria Urban: Das unterscheidet sich nicht stark von dem, was sie immer schon wissen wollten. Sie beschäftigen sich mit ihrem Körper, der ersten Liebe, dem ersten Mal oder der Frage, mit welchem Geschlecht sie sexuelle Erfahrungen sammeln wollen. Natürlich interessiert sie auch, wie man schwanger wird, wie sich der Fötus entwickelt, aber sie möchten vor allem Orientierung bekommen.

Aber sie bringen doch ein ganz anderes Vorwissen mit als Generationen ohne Smartphone.

Sie haben natürlich deutlich mehr Zugang zu Informationen und wissen insgesamt mehr über sexuelle Vielfalt und Praktiken. Im Internet treffen sie aber meist auf sehr spezifische Themen. Wenn sie bei Tiktok Videos mit sexuellen Inhalten konsumieren, sind die vielleicht fokussiert auf den Penis, dann geht es darum, wie lang, groß und breit der ist. Das sind meist sehr eindimensionale Informationen, verpackt in kurzen Videos, die teilweise auch komplett falsch sind. Das Bedürfnis ist groß zu erfahren, was wirklich wahr ist. Die Kinder wollen das, was sie im Netz gesehen haben, in der Schule besprechen. Ich kann meine Fragen natürlich bei Google eingeben, aber dann bekomme ich vielleicht 20 Antworten. Umso mehr wächst der Wunsch nach einer Unterstützung, sich in dieser pluralen Welt positionieren und orientieren zu können.

Ist Schule denn überhaupt noch der geeignete Ort dafür? Für frühere Generationen wäre es undenkbar gewesen, mit den Eltern über Sexualität zu sprechen, aber heute?

Für viele Kinder und Jugendliche sind Eltern tatsächlich wichtige Ansprechpersonen, aber nicht in allen Familien ist es möglich, offen darüber zu reden. Die Schule ist durch die Schulpflicht die einzige Institution, über die wir alle Kinder erreichen, auch diejenigen, die sonst wenig Möglichkeiten haben, sich zu informieren und auszutauschen, zum Beispiel auch aufgrund von Sprachbarrieren oder Beeinträchtigungen. Und in Studien sehen wir, dass für einen Großteil aller Kinder und Jugendlichen die Lehrkräfte weiterhin ganz wichtige Ansprechpersonen beim Thema Sexualität sind. Ich denke allerdings nicht, dass alle Lehrkräfte hinreichend reflektiert haben, was für eine relevante Funktion sie im Hinblick auf sexuelle Bildung einnehmen.

Was heißt alle Lehrkräfte? Meinen Sie damit auch die Mathelehrerin?

Das Thema wird nach wie vor wenigen Fachrichtungen zugeschoben. Im Biologieunterricht werden die körperlichen Entwicklungen besprochen und in Ethik oder Religion geht es noch um Liebe und Familienkonstellationen. Es sollen ja auch nicht alle den ganzen Tag über Sexualität sprechen. Aber zwischenmenschliche Beziehungen prägen das Aufwachsen und sexuelle Themen beschäftigen schon Kinder. Es wäre gut, wenn auch die Mathelehrerin eine Vertrauensperson sein kann, weil sie sich mit Sexualität und sexualisierter Gewalt beschäftigt hat. Dafür müssen wir die Lehrkräfte aber ausbilden. Das findet jedoch in aller Regel nicht statt.

Wie sieht denn aktuell der Sexualkundeunterricht aus?

Dazu gibt es kaum empirisch gesicherte Daten. Das ist ein großes Problem. Es kann sein, dass nur Themen wie körperliche Veränderungen in der Pubertät, Krankheiten und Verhütungsmittel behandelt werden. Das reicht aber nicht. Sexuelle Gesundheit ist komplexer, es geht auch darum, eine eigene Haltung zu entwickeln, sein eigenes Handeln zu reflektieren. Es geht um einen selbstbestimmten und wertschätzenden Umgang mit Sexualität und geschlechtlicher Vielfalt und um den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Gerade im Internet sind Kinder und Jugendliche Inhalten ausgesetzt, denen sie sich wenig oder nur schlecht entziehen können, weil es cool ist, sie zu konsumieren, oder weil sie sie ungewollt gesendet bekommen. Wir können das nicht einfach in ihre Hände legen und sagen: ‚Die werden das schon machen und lernen, damit umzugehen.‘ Aber im Moment passiert meist genau das.

Aber alle Bundeländer haben doch sexuelle Bildung in ihren Lehrplänen verankert.

Ja, aber die Umsetzung hängt viel zu sehr von der einzelnen Lehrperson ab, wie sehr sie sich engagiert und selbst Wissen aneignet. Eine bundesweite Erhebung im Rahmen unseres Forschungsprojekts „SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt“ hat gezeigt, dass das Ausbildungsdefizit unter Lehrkräften immens ist. Etwa 80 Prozent gaben an, im Studium keine Angebote zur sexuellen Bildung erhalten zu haben. Bei der Prävention sexualisierter Gewalt sieht es noch schlechter aus: Hier wurden 92 Prozent der Lehrkräfte nicht ausgebildet. Außerdem …

Das ganze Interview auf Süddeutsche Zeitung online:

https://www.sueddeutsche.de/leben/sexualkundeunterricht-kinder-jugendliche-pornos-wahrheit-li.3154799