Foto: Alessandra Schellnegger

Nur geduldet

Süddeutsche Zeitung

Riad ist geübt darin, Ausreden zu erfinden. Als seine Klasse zu einem Schüleraustausch nach Frankreich fuhr, hat der 14-Jährige gesagt, dass er keine Lust habe. Dabei wäre er gerne mitgefahren, er besucht ein sprachliches Gymnasium. Doch Riad durfte nicht mit. Er darf Deutschland nicht verlassen. Einerseits. Andererseits darf er auch nicht in Deutschland bleiben. Nicht in München, in der Stadt, in der er sich längst zu Hause fühlt und in der er den Großteil seines Lebens verbracht hat. Zumindest nicht, wenn es nach dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) geht.

Riad, seine beiden Brüder und die Eltern sind ausreisepflichtig. So steht es in den Papieren, die sie von den Behörden erhalten haben. Sie sind in Deutschland nur geduldet. Rosa und hellgrün sind die Farben ihrer Ausweise, die das Format eines alten Führerscheins haben. Doch es ist kein Pass. „Aussetzung der Abschiebung“, steht vorne drauf. Und dann: „Kein Aufenthaltstitel!“ Mit einem Ausrufezeichen – als müsse man noch betonen, was dies für die Familie bedeutet.

Seit acht Jahren lebt die Familie Said in München. Riad war sechs Jahre alt, als er Tunesien verließ. Es ist heute ein fremdes Land für ihn. Eigentlich heißt die Familie anders. Doch die Söhne möchten nicht, dass ihr richtiger Name oder ein Foto von ihnen in der Zeitung steht. Sie wollen so sein wie die anderen Kinder in ihrer Klasse. In der Schule erzählen sie nicht, dass ihre Mutter jede Nacht vor Angst weint und sich kaum noch aus dem Haus traut. Dass ihr Vater alle paar Monate nach Pirna in Sachsen fahren muss, um einen neuen Stempel abzuholen. Der Stempel, der es ihnen gestattet, weitere sechs Monate in Deutschland zu bleiben.

Selbst ihren besten Freunden erzählen Riad und sein 13-jähriger Bruder Sami nicht, warum sie an dem Schüleraustausch nach Frankreich und der Skifreizeit nach Österreich nicht teilnehmen können. Sie erfinden auch Ausreden, warum sie nicht mitkommen, wenn ihre Freunde am Wochenende ins Kino oder ins Schwimmbad gehen. Die beiden Gymnasiasten schämen sich dafür, dass ihre Familie kein Geld hat, um ihnen den Eintritt zu bezahlen.

Ihre Eltern Ali und Fatima Said sind mit ihnen nicht als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Der heute 53-jährige Familienvater war Mitarbeiter im tunesischen Konsulat in München. Es ging ihnen gut, bis 2011 der politische Umsturz in Tunesien stattfand. Ali Said verlor nicht nur seine Arbeit, er hat seitdem auch Angst, in sein Heimatland zurückzukehren. Er befürchtet, dort verfolgt, gefoltert oder ermordet zu werden, weil er für das alte Regime gearbeitet hat. Daher stellte er vor fünf Jahren einen Asylantrag. Seitdem lebt die Familie in Angst und Unsicherheit.

Die Absurditäten deutscher Asylpolitik

Das Bundesamt lehnte den Asylantrag nach zwei Jahren ab. Die bekannte, vor einem halben Jahr gestorbene Münchner Anwältin Angelika Lex klagte dagegen. Zwei Jahre später wurde auch die Klage abgewiesen. Der neue Anwalt legte Berufung ein. Doch im vergangenen April erhielten sie wieder eine schlechte Nachricht. Das Oberverwaltungsgericht Sachsen lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Zuständig für die Familie Said ist nicht die Ausländerbehörde in München, sondern die im sächsischen Pirna. Eine Folge der üblichen Abläufe deutscher Asylverfahren – die mitunter zu absurden Situationen führen kann, wie bei den Saids.

Als die Familie vor fünf Jahren den Asylantrag stellte, wurde sie nach dem bundesweiten Verteilsystem Easy einem Landkreis zugewiesen. Das Ergebnis: Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Obwohl die Saids damals bereits drei Jahre in München lebten, die Kinder dort Schule und Kindergarten besuchten, sollten sie in eine Flüchtlingsunterkunft nach Sachsen ziehen. Nur dank des Engagements des Bayerischen Flüchtlingsrates und der Einwilligung von Seiten der Stadt München erhielten sie schließlich die Erlaubnis, weiterhin in München wohnen zu dürfen.

Ali Said zieht eine kleine Plastikkarte aus seinem Portemonnaie und zeigt sie stolz als wäre sie ein äußerst wertvoller Gegenstand. Er ist jetzt Mitglied in der gesetzlichen Krankenkasse. Und seine Familie ist über ihn mitversichert. Eine Selbstverständlichkeit für Arbeitnehmer in Deutschland. Für Ali Said ein großer Schritt. Er weiß, dass das ihre letzte Chance ist. Dass davon die Zukunft seiner Familie abhängt. Von der Krankenkassenkarte, von seinem Arbeitsvertrag, von den Schulzeugnissen der Kinder und von den Nachweisen über erfolgreich abgeschlossene Deutschkurse und Weiterbildungen.

„Tunesier haben nahezu keine Chance mehr, Asyl in Deutschland zu erhalten“, sagt Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Der Familie bleibt daher nur noch eine Hoffnung. Die sogenannte Altfallregelung. Dafür müssen sie lange genug in Deutschland leben und vorweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, nicht straffällig geworden und ausreichend integriert sind.

Riad, Sami und ihr siebenjähriger Bruder sprechen akzentfrei Deutsch. Die beiden älteren Söhne besuchen das Gymnasium, der jüngere die Grundschule. Ihre Klassenkameraden merken ihnen nicht an, dass sie nur geduldet sind. Aber so zu sein wie die anderen Kinder, das funktioniert nur, solange sie nicht von ihrer Situation erzählen. „Ich traue mich nicht, unsere Freunde zu uns einzuladen“, sagt Sami. Seine Familie lebt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Im Flur muss man sich an der Waschmaschine vorbeizwängen. Mit Riad teilt er sich einen Schreibtisch, die Hausaufgaben machen sie abwechselnd .

Dabei hat ihr Vater nach langer Suche vor einem halben Jahr endlich eine Arbeit gefunden. Wer stellt schon einen Mitarbeiter ein, bei dem man nicht weiß, ob er nächsten Monat abgeschoben wird? Jetzt hat er einen Job, in einem kleinen Hotel, als Rezeptionist. 45 Stunden in der Woche, 2000 Euro brutto im Monat, 20 Tage Urlaub im Jahr, so steht es in seinem Vertrag. Doch Said ist glücklich. „Hauptsache ich kann endlich arbeiten“, sagt er.

Er hat einen großen Stapel Papiere aus einer Schublade geholt. Jedes Blatt steckt einzeln in einer Klarsichthülle. Alles ordentlich sortiert. Said klammert sich an diese Dokumente. Es sind die Beweise zur Integrationder Familie. Sein Arbeitsvertrag. Eine Bestätigung des Gymnasiums, in der versichert wird, dass die beiden Söhne „voll integriert“ sind und der Vater sich „sehr freundlich und engagiert um alle schulischen Belange seiner Kinder“ bemüht.

Integrierter kann man nicht sein

Zertifikate über Lehrgänge, die Said abgeschlossen hat. Kaufmännische Qualifizierung, Gesamtnote: sehr gut. Über berufsbezogene Sprachkurse von ihm und seiner Frau. Über abgeschlossene Computerkurse. Eine Urkunde über die Anerkennung seines tunesischen Studiums zum Hotelkaufmann. Praktikanachweise seiner Frau aus einem Kindergarten und einem Altenpflegeheim.

In den Nachrichten hört Ali Said immer wieder, dass Asylsuchende sich integrieren sollen. Seine Familie hat wohl so ziemlich alles gemacht, was man unter erfolgreicher Integration in Deutschland verstehen kann. Trotzdem wissen sie auch nach acht Jahren nicht, ob sie bleiben dürfen. „Ich habe immer Angst, dass sie an die Tür klopfen und sagen: Sie müssen jetzt gehen“, sagt Fatima Said. „Ich weiß nicht, was morgen mit uns passiert.“ Sie leidet unter Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Ihr Mann will nicht aufgeben. „Ich muss den Kindern Mut machen“, sagt er. „Ihnen die Hoffnung geben, dass es besser wird und wir endlich einfach in Frieden leben können.“