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„Wir können noch viel von ihm lernen“

Süddeutsche Zeitung, Leute

Als Kind durfte Judith Faessler keine geflochtenen Zöpfe tragen, wenn sie ihren Großvater mütterlicherseits in München besuchte. Warum, das wusste sie damals nicht. Faessler und ihre beiden Geschwister spürten nur, dass da etwas war, über das nicht gesprochen wurde. Dass der lustige Großvater, der seinen Enkeln immer offen und großherzig begegnete und viele Witze erzählte, dass er etwas mit sich herumtrug, etwas Schreckliches, über das nie jemand bei den Familientreffen sprach.

  Einmal fragte Judith Faessler als Mädchen ihren Großvater, was die Nummer auf seinem Arm bedeute. Es war eine blauschwarze Tätowierung. Er antwortete ihr, dass das seine frühere Telefonnummer sei, die er sich so schlecht habe merken können. Er selbst habe in der Situation ganz locker reagiert, erinnert sich die heute 47-Jährige. Doch die anderen Verwandten zuckten erschrocken zusammen, als das Kind die Frage stellte. Ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu. Und Faessler wunderte sich, weil ihr Großvater doch eigentlich so ein gutes Gedächtnis hatte und nichts vergaß. Doch sie sagte nichts.

  Was das alles zu bedeuteten hatte, dass es die Nummer war, die ihm als KZ-Häftling eingebrannt worden war, das hat Faessler erst später erfahren. Als ihr Großvater Max Mannheimer 1985 sein „Spätes Tagebuch“ veröffentlichte, in dem er aus seinen Erfahrungen in fünf Konzentrationslagern berichtete. Bis dahin hatte Mannheimer geschwiegen. Wie so viele KZ-Überlebende hatte er die unfassbaren Grausamkeiten und Leiden nicht in Worte fassen können. Und er wollte seine Familie nicht damit belasten. Doch dann schrieb er seine Erinnerungen auf. Eigentlich waren sie nur für seine Tochter bestimmt. Aber das Buch war der erste Schritt, mit dem Mannheimer sich an die Öffentlichkeit wandte und zu einem bedeutenden Zeitzeugen wurde.

  Von da an besuchte er Schulen, sprach mit jungen Menschen, hielt Vorträge und führte durch die KZ-Gedenkstätte Dachau. Mehr als 30 Jahre, bis zu seinem Tod 2016 mit 96 Jahren, reiste er durch Deutschland und die Welt und warb für Humanität, Freiheit und Demokratie. Seine Enkelin Judith Faessler begleitete ihn einige Male zu Vorträgen und übersetzte auch. Sie erfuhr dabei immer wieder Neues über ihn. Denn auch wenn Mannheimer vielen Menschen von seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern berichtete, so blieb es ein Thema, über das bei Familientreffen nicht gesprochen wurde. „Es gibt viele Fragen, die ich ihm nicht gestellt habe“, sagt Faessler. „Unbeteiligte Jugendliche stellten bei den Vorträgen viel unbefangenere Fragen.“

  Eine Wohnung in München, im Flur sind Kletterelemente an der Wand befestigt. Im Wohnzimmer hängen Familienfotos mit vier Generationen, darauf ist Mannheimer neben seiner jüngsten Urenkelin zu sehen. Draußen vor dem Balkon rascheln Büsche im Wind, auf einer Bank liegen Kissen mit orientalischen Mustern, an der Decke hängen zwei Beutel mit Fußbällen. Faessler wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in München. In der Stadt, in die auch ihr Großvater nach dem Krieg zog, obwohl er sich nach seiner Befreiung aus dem KZ geschworen hatte, nie wieder das Land seiner Peiniger zu betreten. Doch Mannheimer lernte in Tschechien seine zweite Frau kennen, Elfriede Eiselt, eine Sudetendeutsche und Widerstandskämpferin. Sie heirateten, bekamen eine Tochter Eva – Judith Faesslers Mutter – und zogen nach München, wo Elfriede Mannheimer SPD-Stadträtin wurde und ihr Mann für jüdische Institute arbeitete.

  In ihrer Kindheit sah Faessler ihren Großvater nur bei Besuchen in München oder wenn Max Mannheimer nach Frankreich kam. Faesslers Eltern waren dort in die Nähe der Schweizer Grenze gezogen, ihr Vater arbeitete als Physiker in Cern. In ihrer Kindheit waren die Verbrechen der Nationalsozialisten noch sehr gegenwärtig in den Erinnerungen vieler Franzosen.

Faessler erlebte damals häufig, dass sie und ihre Familie als die bösen Deutschen beschimpft wurden. Sie kamen schließlich aus dem Land der Täter. Judith wusste nicht, dass ihr Opa Jude war, und dass – bis auf seinen Bruder Edgar – seine gesamte Großfamilie und seine erste Frau von den Nationalsozialisten ermordet worden waren. Als Faessler zehn Jahre alt war, erzählte ihre Mutter ihr lediglich, dass Großmutter Elfriede eine Widerstandskämpferin gewesen war. „Ich war damals sehr erleichtert“, erzählt sie. „Denn damit war die Vorstellung, dass alle Deutschen schlecht sind, widerlegt. Ich hatte die Hoffnung, dass meine Familie nicht zu den Bösen gehört.“

  Dass sich Menschen nicht nach Nationalitäten oder nach Religionen in Gut und Böse aufteilen lassen, das war eine prägende Erfahrung, die Faesslers gesamtes Leben durchzieht, und die ihr Großvater ihr immer vorlebte. Er, der unvorstellbare Gräueltaten erlebt hatte, wandte sich nicht mit Vorwürfen, nicht mit Hass und nicht mit Vorurteilen an die Menschen. „Er ist jedem Einzelnen als Mensch und als Individuum begegnet“, sagt Faessler. Als sie ihren Freund heiratete, einen Iraner, äußerten manche Bedenken, das sei doch sicher schwierig für ihren Großvater, für einen Juden. Doch Mannheimer begegnete seinem Schwiegerenkel mit der gleichen Offenheit, Toleranz und Großherzigkeit, die er allen Menschen entgegenbrachte. „Ihm war nur wichtig, dass wir glücklich sind“, sagt Faessler. Als ihr ältester Sohn zur Welt kam, Mannheimers erster Urenkel, freute sich der Uropa und sagte lachend zu dem Baby mit den schwarzen Locken: „Der hat ja die gleichen Haare wie ich.“

  Heute, 14 Jahre später, strahlt der älteste Urenkel Noah übers ganze Gesicht bei der Frage, wie er seinen Uropa in Erinnerung hat. „Erst dachte ich, er sei einfach ein langweiliger alter Mann“, sagt Noah. „Aber dann war ich so beeindruckt, dass er den Rainbow-Trick drauf hat. Mit 91 Jahren!“ Mannheimer nahm damals Noahs Fußball, rollte ihn geschickt an einer Ferse hinauf, kickte ihn dann gekonnt von hinten nach vorne über seinen Kopf und schoss ihn anschließend Noah in den Bauch. Das hinterließ einen bleibenden Eindruck. Seitdem fachsimpelten Urenkel und Urgroßvater bei jedem Treffen über Fußball. „Ich bin wegen ihm Dortmund-Fan geworden“, sagt Noah. Sie besuchten sogar einmal zusammen ein Spiel des FC Bayern gegen Borussia Dortmund.

  Anfang dieses Jahres hielt Faessler in Poing, im Landkreis Ebersberg, eine Rede zur Einweihung des Bürgerhauses, das die Gemeinde nach Max Mannheimer benannt hat. Hat ihr Großvater seinen Enkeln den Auftrag hinterlassen, seine Zeitzeugnisse weiterzutragen? „Nein, das hat er uns nie aufgetragen“, sagt Faessler. „Ihm war immer nur wichtig, für die Demokratie einzutreten.“ Und das gehört für sie ganz selbstverständlich zu ihrem Leben. Nicht, weil sie die Enkeltochter von Mannheimer ist. „Dazu ist jeder aufgerufen“, sagt sie. „Ein einzelner Mensch kann die Welt nicht verändern. Aber wir können alle bei dem Mitmachprojekt Demokratie mitmachen.“

  Ebenso wie ihr Großvater weigert sich Faessler, Menschen pauschal zu verurteilen. Sie wuchs deutsch-, englisch- und französischsprachig auf, lebt mit ihrer Familie konfessionslos in München, studierte Orientalistik, lernte Arabisch, Persisch und Türkisch und arbeitet seit 16 Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bayerischen Verfassungsschutz. Dort beschäftigte sie sich zunächst mit islamistischem Terrorismus, nun mit Rechtsextremismus. Und sie stellt sich dieselben Fragen, die sie sich schon als Kind gestellt hat: Was führt Menschen dazu, dass sie zu solchen grausamen Taten fähig sind? Und was kann man dagegen tun? Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, wird auch deutlich, dass sie immer versucht, die Menschen hinter den Gewalttaten zu sehen. 

  Wie sie selbst sich in dem Mitmachprojekt Demokratie engagiert, erzählt sie erst, nachdem man mehrmals nachfragt. „Es sind ja alles nur Kleinigkeiten“, sagt sie und winkt bescheiden ab. Jeder sei schließlich nur ein kleines Rädchen. Dass das aber kein Grund ist, zu resignieren angesichts der Probleme in der Welt, sondern sich stattdessen zu Wort zu melden, das hat ihr Großvater immer vermittelt. Faessler will sich für die Übersetzung von Biografien wie die ihres Großvaters ins Arabische einsetzen. Auf jedem Markt finde man „Mein Kampf“ auf Arabisch, sagt sie. „Was fehlt, sind glaubwürdige Gegennarrative. Biografien sind echt und nicht belehrend. Ich glaube, man kann damit mehr bewirken, als mit einem Fingerzeig.“ Faessler hat auch den Jemen-Hilfe-Verein mitgegründet, der Nothilfe für hungernde Menschen, Krankenhäuser und Schulen unterstützt. 

  Und sie lässt sich in keine Schublade stecken. Faessler verteidigt den Bayerischen Verfassungsschutz. Die Arbeit der Behörde werde oft viel zu schlecht dargestellt, ihr werde unterstellt, grundsätzlich auf dem rechten Auge blind zu sein. In einem Internetblog kritisiert sie pauschale Verurteilungen von Muslimen und setzt sich für die Wahrung wissenschaftlicher Standards ein. Und sie, die bayerische Beamtin, hat auch CSU-Ministerpräsident Markus Söder einen Brief geschrieben, in dem sie scharf kritisiert, dass der Kreuzerlass der weltanschaulichen Neutralität der deutschen Verfassung widerspreche. 

  Die Freunde ihres Großvaters seien Menschen aller Parteien und Konfessionen gewesen, sagt sie. „Wir können noch viel von ihm lernen.“ Mannheimer war es gelungen, trotz der grausamen Erfahrungen, die er hatte machen müssen, trotz der Schmerzen über den Verlust seiner Familie, seine Lebensfreude zu bewahren und Menschen vorbehaltlos ins Herz zu schließen. „Wenn es zu schwer wurde, hat er einen Witz gemacht“, sagt sie. „Er war ein Optimist.“ Wenn sie an ihren Großvater denkt, sieht sie ihn vor sich, wie er zufrieden lacht.