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„Das ist eines reichen Landes unwürdig.“

Süddeutsche Zeitung, München

In der Abteilung für krebskranke Kinder im Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität fehlen so viele Krankenpfleger, dass nicht mehr alle Betten belegt werden können. Die Elterninitiative „Intern 3“ hat sich mit einer Petition an den Landtag gewandt: Der Personalmangel sei so gravierend, dass auch die Patienten nicht angemessen versorgt werden könnten. Das bestätigt Tobias Feuchtinger, Leiter der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation am Haunerschen Kinderspital. Der Professor spricht darüber, warum er sich Sorgen um seine kleinen Patienten macht und warum bezahlbare Wohnungen und Kitas weiterhelfen würden.

SZ: Herr Feuchtinger, müssen Eltern befürchten, dass ihre kranken Kinder bei Ihnen in der Klinik nicht mehr ausreichend versorgt werden?

Tobias Feuchtinger: Eltern brauchen keine Angst zu haben, dass ihr Kind bei einer Krebserkrankung nicht ausreichend behandelt wird. Wir versorgen jeden medizinisch, der zu uns kommt. Das garantieren wir. Aber wir können den kindlichen Bedürfnissen nicht mehr gerecht werden. Und das ist mit sehr viel Leid verbunden.

Was meinen Sie damit?

Unsere Patienten werden medizinisch immer ausreichend versorgt. Aber ob eine Kinderkrankenpflegerin auch Zeit für ein Kind hat, wenn es weint, wenn es in den Arm genommen werden will, das kommt bei dem Personalmangel zu kurz. Das ist aber etwas, das für ein Kind eine wichtige Rolle spielt. Oder schauen Sie: Der Patient kommt morgens zu uns in die Klinik, er muss nüchtern sein. In dem Bett, in das er kommen soll, liegt aber noch ein anderer Patient. Also muss das Kind auf dem Gang sitzen, wo hektisches Treiben herrscht, und es muss in der Öffentlichkeit versorgt werden. Im Zuge der Effizienz ist es so, dass ein Krankenhaus nonstop belegt sein soll. Es ist aber nicht gut für die Bedürfnisse des Kindes, wenn es in so einer Situation auf dem Gang Infusionen erhält.

Wie viele Betten können Sie derzeit auf der Kinderkrebsstation Intern 3 belegen?

Derzeit können wir nur zehn Betten belegen. Wenn wir genug Pflegepersonal hätten, könnten wir alle 17 Betten belegen.

Und auf der Station für Stammzellentransplantation

Dort muss man langfristig planen. Das ist nicht kurzfristigen Schwankungen unterworfen. Aber diese Station leidet auch unter Pflegemangel. Kurzzeitig war die Station mal ganz geschlossen und die Patienten wurden auf andere Stationen verlegt. Aktuell können hier sechs Kinder gleichzeitig transplantiert werden.

Wie viele Pfleger könnten Sie einstellen?

Wir könnten sofort zehn bis 15 Kinderkrankenpfleger gebrauchen und einstellen. Nur für die Kinderonkologie. Auf anderen Stationen sieht es ähnlich aus.

Müssen Sie auch krebskranke Kinder wegschicken, weil Sie zu wenig Betten haben?

Patienten aus unserem Einzugsgebiet München und Umgebung werden nicht abgewiesen. Für die haben wir auch einen Versorgungsauftrag. Aufgrund unserer Expertise wollen aber auch Patienten von weiter her zu uns kommen. Da kommt es schon vor, dass wir sie zurückverweisen müssen. Wir können nicht alle behandeln, die hier behandelt werden wollen. Aber die Versorgung krebskranker Kinder erfordert auch ein gutes interdisziplinäres Zusammenwirken verschiedener Experten, zum Beispiel mit der Intensivstation und der Kinderchirurgie. Und dort sind die Engpässe nicht weniger herausfordernd.

Machen Sie sich Sorgen, dass Sie bald auch nicht mehr alle krebskranken Kinder aus München versorgen können?

Ja, durchaus. Wenn der Trend ungebrochen weitergeht, müssen wir das befürchten. Davon sind wir nicht weit entfernt. Die Kinderonkologie ist ein sehr spezialisiertes Feld. Dadurch verschärft sich der Personalmangel. Kinder mit Krebs können nur im Klinikum Schwabing oder bei uns in der Haunerschen Kinderklinik behandelt werden, woanders gibt es solche Zentren in München nicht. Wenn wir aber nicht genug Pflegepersonal haben, müssen wir die schwierige Entscheidung fällen, Betten nicht belegen zu können. Wir können immer nur so viele Betten belegen, dass wir garantieren können, dass die Patienten ausreichend und in guter Qualität betreut werden. Es gibt aber einen Graubereich.

Was meinen Sie mit Graubereich?

Wenn Kinder zum Beispiel Blutkrebs haben, sind sie lange und viel in der Klinik. Da brauchen sie Erzieher, psychoonkologische und soziale Betreuung. Auch die betroffenen Familien brauchen Unterstützung. Es ist neben der psychologischen auch eine immense soziale Belastung, weil ein Elternteil meist seinen Beruf aufgeben muss, wenn er lange und häufig das Kind in die Klinik begleitet. Wir haben auch Sozialpädagogen, Psychologen und Erzieher. Aber ein großer Teil dieser aus unserer Sicht notwendigen Stellen werden nicht vom Sozialversicherungssystem finanziert. Dafür sind Spenden nötig, die die Elterninitiative seit Jahrzehnten organisiert.

Ist das nicht beschämend, dass die Betreuung krebskranker Kinder und ihrer Familien von Spenden abhängig ist?

Ja, das ist eines reichen Landes unwürdig. Dabei muss man unterscheiden. Die medizinische Betreuung ist gewährleistet. Die Medikamente, die Chemotherapie, das wird alles bezahlt. Aber was ein Kind noch braucht, dass jemand mit ihm spielt, ihm hilft, den Schock und das Trauma zu bearbeiten, das ist nur durch Spenden gewährleistet. Die Bedürfnisse des Kindes und der Eltern können wir nicht berücksichtigen mit dem, was die Krankenkassen oder das Land Bayern uns zur Verfügung stellen. Das ist schon seit Jahrzehnten so. Und das nimmt noch zu.

Haben Sie Erfahrungen, wie das auf Krebsstationen anderer Kinderkliniken ist? 

In allen Kinderonkologien Deutschlands werden diese Stellen weitgehend über Elterninitiativen bezahlt. Das ist auch ein Grund, weshalb die Elterninitiative Intern3 die Petition gestellt hat. Weil sie sieht, dass das System den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht wird.

Und wie ist die Versorgung mit Ärzten bei Ihnen auf der Station?

Im Prinzip haben wir keinen ärztlichen Fachkräftemangel, weil viele Ärzte in diesem Bereich arbeiten möchten. Aber deutschlandweit wurden auch die ärztlichen Stellen in den Kinderkliniken im Laufe der Jahre immer weiter zurückgefahren. Im Zuge einer zunehmenden Kommerzialisierung der Medizin haben kranke Kinder einen ganz besonders schwierigen Stand. Das DRG-System (die Abrechnung nach Fallpauschale; Anm. der Redaktion) hat noch nicht ausreichend berücksichtigt, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und ganz besondere Bedürfnisse haben. Alle großen Kinderkliniken in Deutschland, die eine umfassende Betreuung schwerstkranker Kinder anbieten, arbeiten deswegen defizitär. Die Zeit, die der einzelne Arzt für den Patienten hat, wird immer weniger, viele Spezialabteilungen müssen auf Minimalniveau arbeiten. Das kann man mit Überstunden und Engagement ausgleichen, aber auch das stößt an Grenzen.

Sind Sie heute weit von dem entfernt, wie Sie sich zu Beginn die Arbeit als Kinderarzt vorgestellt hatten?

Nein. Weil wie ich persönlich mit Patienten umgehe, das kann einem kein System nehmen. Das ist Berufung und nicht Beruf. Aber diese Optimierung von Abläufen stößt an ihre Grenzen. Es ist gut und notwendig, dass die Medizin auch wirtschaftlich effizient arbeitet. Aber das darf nicht auf Kosten der Kinder gehen. Man kann nur ansatzweise ermessen, wie es für eine Familie ist, ein schwer krankes Kind zu haben. Und wie es dem Kind ergeht, wenn es ein Bett braucht, aber nicht seinen Bedürfnissen gemäß versorgt wird.

Warum hat der Pflegemangel so dramatisch zugenommen?

Der Pflegenotstand ist hier so gravierend, weil Wohnen in München sündhaft teuer ist. Es ist begrenzt, was wir daran verbessern können. Selbst wenn wir mehr bezahlen wollten, so sind dem tariflich enge Grenzen gesetzt. Viele unserer Kinderkrankenpfleger wohnen noch in kleinen Zimmern in Wohnheimen, müssen weite Wege in die Stadt pendeln oder leben in sehr beengten Wohnverhältnissen. Das macht uns sehr zu schaffen. Es gibt in der Pflege zu wenig Fachkräfte, aber es gibt viele junge Menschen, die in dem Bereich gerne arbeiten würden. Krebs ist eine schreckliche Krankheit, aber zum Glück ist Krebs bei Kindern meistens heilbar. Daher gibt es einen großen Ansporn, daran mitzuarbeiten. Die Kinderkrankenpflege ist eigentlich ein wunderbarer Beruf.

Was muss sich ändern, damit Sie nicht noch mehr Betten schließen müssen? 

Wir brauchen dringend Wohnräume mit angemessenen und bezahlbaren Wohnungen, am besten hier um die Ecke. Das wäre eine ganz praktische Lösung. Und wir brauchen dringend mehr Kitas für die Mitarbeiter. Es gibt viele Mitarbeiter, die erfahren sind, dann Kinder bekommen und nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren, weil die Kinderbetreuung in München nicht gut funktioniert. Das ist in Berlin anders, weil die Kita-Landschaft dort eine ganz andere ist. Das zweite ist, es gibt viele junge Menschen, die den Beruf erlernen wollen. Aber die Ausbildungskapazitäten sind begrenzt und wir könnten gut eine weitere Kinderkrankenpflegeschule brauchen. Das ist etwas, das man politisch verändern könnte. Der neue Gesundheitsminister hat 8000 neue Pflegestellen bundesweit versprochen. Das ist gut, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.