Zu viele Reize, zu viel Druck

Psychologie Heute, Beltz Verlag

Zehn Jahre lang fragten sich Mias Eltern, warum ihr Kind, das sie kurz nach der Geburt adoptiert hatten, so viele Schwierigkeiten hatte. Die ersten Lebensmonate schrie Mia stundenlang. Im Kindergarten wirkte sie jünger als andere Kinder und war schnell erschöpft. „Das ist, weil sie ein Frühchen ist“, sagten sich die Eltern. Als Mia in die Schule kam, konnte sie sich nur schwer konzentrieren und vergaß, was sie gelernt hatte. „Das wächst sich raus“, sagten die Lehrer. Doch Mias Wutanfälle wurden immer heftiger, sie verletzte sich selbst.

Mia habe Verarbeitungs-, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen, diagnostizierten die Psychologinnen, zu denen die Familie schließlich ging. Mia wurde zahlreichen Tests unterzogen, die Liste der Befunde wurde immer länger, sie erhielt Logopädie, Verhaltens- und Ergotherapie. Ihre Eltern nahmen sich viel Zeit, lernten mit ihr, gingen wandern und schwimmen. Mia wiederholte eine Klasse, einige Monate lang ging es ihr besser, dann wurde es wieder schlimmer. Die Eltern fühlten sich immer ratloser. Am 15. März 2017 dann, Mia war damals zehn Jahre alt, erhielten sie Klarheit. Sie seien an diesem Tag „endlich angekommen“, sagt Mias Vater, der nicht möchte, dass ihre echten Namen genannt werden.

Damals diagnostizierte die Kinder- und Jugendärztin Heike Hoff-Emden bei Mia das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), das Vollbild der Störungen, die unter dem Begriff FASD („fetal alcohol spectrum disorders“) zusammengefasst sind (siehe Kasten). Die ärztliche Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) in Leipzig beschäftigt sich seit fast 30 Jahren mit FASD und damit mit einem Krankheitsbild, das in vielen Fällen unentdeckt bleibt. Auch im Fall von Mia hatte keiner der Ärztinnen, Pädagogen oder Psychologinnen im Umfeld der Familie zuvor den Verdacht geäußert. Für die Eltern war die Diagnose eine Erleichterung. „Wir wussten endlich, was wir tun können, um unserer Tochter zu helfen“, sagt Mias Vater.

FASD werden oft nur als ein gesellschaftliches Randphänomen wahrgenommen, dabei zählen sie zu den häufigsten angeborenen Behinderungen in Deutschland. Einer Studie des Münchner Instituts für Therapieforschung zufolge, die 2019 im Fachmagazin BMC Medicine erschien, waren 2014 bundesweit etwa 12.650 Kinder mit pränatalen Schädigungen durch Alkohol auf die Welt gekommen. Die genaue Anzahl der Betroffenen zu beziffern, ist schwierig, häufig wird die Krankheit sehr spät oder überhaupt nicht diagnostiziert. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mindestens ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland, also etwa 800.000 Menschen, darunter leiden….

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