Foto: Esther Horvath/ Alfred-Wegener-Institut

Eingefroren in der Arktis

Bauwerk Magazin

Es war die aufwendigste und teuerste Arktis-Expedition aller Zeiten. Während der einjährigen MOSAiC-Reise, die vom Alfred-Wegener-Instituts (AWI) geleitet wurde, lebten und arbeiteten insgesamt 442 Wissenschaftler an Bord des Forschungsschiffes „Polarstern“. Eine von ihnen war Verena Mohaupt, die als Logistikkoordinatorin die Expedition vorbereitet und begleitet hat.

Die 37-Jährige hat dafür gesorgt, dass die Wissenschaftler geschützt vor Eisbären, Kälte und Unfällen sicher im Polareis arbeiten konnten. Mohaupt war insgesamt neun Monate mit an Bord des Forschungsschiffes. Die Physikerin hatte zuvor bereits 18 Monate lang die deutsch-französische Forschungsstation im norwegischen Spitzbergen geleitet. Vom britischen Fachmagazin „Nature“ ist Mohaupt als einer von zehn Menschen geehrt worden, die im Jahr 2020 eine entscheidende Rolle für die Wissenschaft spielten.

Frau Mohaupt, MOSAiC war die aufwendigste Polarexpedition aller Zeiten. Etwa 100 Menschen lebten und arbeiteten immer gleichzeitig an Bord der Polarstern. Eine riesige logistische Herausforderung. Wie bereitet man so eine Reise vor?

Verena Mohaupt: „Ich habe das ja nicht allein gemacht. Wir haben viele tolle Kollegen am AWI und eine Logistikabteilung, die seit Jahrzehnten Expeditionen managt. Einer der Schlüsselpunkte im Vorfeld war die Kommunikation. Wir haben mit Leuten aus der ganzen Welt zusammengearbeitet und mussten alle informieren, was auf sie zukommt, was von ihnen erwartet wird, was sie erwarten können und was wir für Vorgaben haben.“ 

Der Platz an Bord des Forschungsschiffes war begrenzt. 

Verena Mohaupt: „Ja, wir mussten gucken, was die einzelnen Projekte an Fracht mitbringen, was es für Redundanzen gab und wo wir Engpässe bekommen könnten. Als Vorbereitung haben wir auch Workshops organisiert, Sicherheitstraining gegeben und für alle Teilnehmer ein Handbuch entwickelt mit vielen praktischen Tipps zum Arbeiten und Leben in der Arktis.“

Was sollte man vorab über den Alltag in der Arktis wissen? 

Verena Mohaupt: „Dass alle Installationen mit Reflektoren ausgestattet sind, damit man sie im Dunkeln wiederfindet. Dass im tiefen Schnee, Schneeschuhe helfen. Dass man nie ohne Kopflampe nach draußen geht. Dass Skier eine gute Alternative zu Skidoos sind, weil man damit den Fußabdruck verringert, den wir hinterlassen und weil wir die Messungen nicht verfälschen wollen. Dass es keine Toilette auf dem Eis gibt. Man kann da nicht einfach hinpinkeln, wenn man dort ein Jahr lang arbeitet. Auch, um keine Eisbären anzulocken.“

Und was macht man auf dem Eis, wenn man pinkeln muss? 

Verena Mohaupt: „Wenn man nah am Schiff ist, geht man zurück aufs Schiff. Aber wenn man weiter entfernt auf die Eisscholle geht, muss jeder eine Pinkelflasche mitnehmen.“

Sind Sie während der Arktis-Expedition Eisbären begegnet?

Verena Mohaupt: „Ja, wir hatten viele Begegnungen, zum Teil täglich.“

Gab es auch brenzlige Situationen?

Verena Mohaupt: „Nein, brenzlig nicht. Was als brenzlig beurteilt wird, hängt natürlich auch immer sehr vom Betrachter ab. Wenn Eisbären auftauchten, haben wir die Eisscholle evakuiert. Das heißt, alle Leute, die auf der Scholle gearbeitet haben, wurden wieder zurück auf das Schiff beordert. Das kam regelmäßig vor. Aber das ist ja auch Teil des Gesamtkonzeptes, dass man die Eisbären so früh wie möglich sieht, und dann ist Regel Nummer eins der geordnete Rückzug, damit es gar nicht erst zur wirklichen Konfrontation kommt.“

Und kam es zu Konfrontationen mit Eisbären?

Verena Mohaupt: „Es kam so weit, dass wir die Eisbären mit Signalmunition verscheucht haben. Einmal war ich mit einem Team auf einer anderen Scholle unterwegs. Dort kam ein Eisbär, der wirkte interessiert. Den haben wir dann mit Signalmunition versucht zu verscheuchen. Aber der war bestimmt noch 100 Meter entfernt. Wir wurden dann vom Helikopter wieder eingesammelt. Es war bei allen Ausflügen so, dass immer jemand mit dabei war, der nur zuständig für die Eisbärenwacht war. Wenn alle vertieft in ihre Arbeit sind, kann es sein, dass der Eisbär plötzlich drei Meter neben einem steht und keiner hat ihn gesehen.“

Mussten alle Wissenschaftler vorher lernen, auf Eisbären zu schießen?

Verena Mohaupt: „Die Teilnahme an den Kursen war freiwillig. Wir haben gesagt, dass es natürlich Sinn macht, wenn möglichst viele Leute an den Kursen teilnehmen. Wir vom Logistik-Team waren schon vorrangig für die Eisbärenwacht zuständig, aber mit sieben, acht Leuten konnten wir allein nicht den ganzen Tag abdecken. Man kann nicht zehn Stunden am Stück auf Eisbärenwache gehen, dann ist man nicht mehr wachsam.“

Was war die größte Gefahr für das Team?

Verena Mohaupt: „Das ist schwer zu sagen. Die größte Gefahr, weil ständig da und für jeden eminent, ist die Kälte. Vielleicht war sie aber auch am einfachsten zu bekämpfen, weil man sich gegen die Kälte einfach richtig anziehen muss. Man kann auch bei minus 30 Grad draußen arbeiten. Natürlich merkt man, dass man mehr Energie verbraucht, dass man abends ganz schön müde ist, wenn man den ganzen Tag draußen war bei den Temperaturen. Aber wenn man gute Kleidung hat, sich schützt und aufeinander achtet, dann ist das nicht gefährlich. Wenn man das nicht tut, ist das allerdings schnell wirklich gefährlich.“

Wie findet man die richtige Kleidung für solch eine Expedition? Sie muss die Teilnehmer wärmen, wenn sie ins Wasser fallen, sie aber gleichzeitig nicht in die Tiefe ziehen. 

Verena Mohaupt: „Das Problem war, dass wir so viele Leute ausstatten mussten, die tagtäglich über ein Jahr hinweg bei verschiedenen Gegebenheiten und Temperaturen auf dem Eis gearbeitet haben. Innerhalb des Jahres hatten wir aber komplett unterschiedliche Bedingungen. Es ist etwas anderes, ob man minus 20 oder plus vier Grad hat und ob das Meereis sehr dynamisch ist oder nicht. Im Winter ist die Gefahr, wirklich nass zu werden, nicht sehr groß. Wenn das Eis im Sommer schmilzt, braucht man Anzüge, die wasserdicht sind. Wir haben Anzüge gesucht, die alles abdecken.“

Die Wissenschaftler haben im Sommer und Winter die gleichen Anzüge getragen?

Verena Mohaupt: „Wir hatten immer die Vorgabe: Wenn jemand sich über das offene Wasser bewegt oder irgendwo arbeitet, wo die Gefahr eminent ist, dass man im Wasser landen könnte, muss man auch im Winter den wasserdichten Überlebensanzug anziehen, in dem man nicht untergeht. Das kam aber im Winter wesentlich seltener vor.“ 

Haben Sie die Anzüge unter arktischen Bedingungen vorab getestet?

Verena Mohaupt: „Ja, im Januar 2019 haben wir in Spitzbergen verschiedene Modelle ausprobiert, um zu sehen, ob man darin arbeiten kann, ob man nass wird oder zu sehr schwitzt. Wir haben uns in den Anzügen im Fjord herumgetrieben und geguckt, wie lange man das aushält.“

Für so eine Expedition eine Packliste zu erstellen, ist ja wesentlich komplexer als bei einer üblichen Reise. Um welches Gepäck mussten Sie sich kümmern?

Verena Mohaupt: „Wir waren zuständig für die generelle Logistik auf der Eisscholle. Für die Schneemobile, die Wegemarkierungen, das Datennetzwerk, das Stromnetzwerk, die Pistenbullis, Kettenfahrzeuge und die Schutzanzüge für die Teilnehmer.“

Wie lange haben die Vorbereitungen gedauert?

Verena Mohaupt: „Ich habe 2018 angefangen für die MOSAiC-Expedition zu arbeiten. In Vollzeit. Aber die ersten Planungen haben schon vor zehn oder elf Jahren angefangen. Die Expedition hatte eine sehr lange Vorlaufzeit.“

Wie war das, nach eineinhalb Jahren Vorbereitung, als das Schiff ablegte?

Verena Mohaupt: „Anstrengend und auch toll. Während der Vorbereitung gab es schon eine krasse Dynamik bei allen Leuten, die an dem Projekt beteiligt waren. Und die ist immer weiter gestiegen. Es gab da so viel zu tun, dass man in einem Sog war. Das hat zu der Zeit auch mein ganzes Leben eingenommen. Als wir dann losfuhren, hatte ich schon Sorge, dass wir etwas Essentielles vergessen haben. Trotzdem war es auch eine gewisse Erleichterung, denn in dem Augenblick war klar, wenn wir etwas vergessen haben, können wir es nicht mehr ändern und müssen damit klarkommen. Ein gewisser Druck ist da schon abgefallen.“

Und haben Sie etwas Essentielles vergessen?

Verena Mohaupt: „Nein, nichts Essentielles. Bestimmt Kleinigkeiten. Es gab immer mal Momente, wo man dachte, ach Mist, aber nichts Essentielles.“

Ist es nicht anstrengend, monatelang im Dunkeln zu leben?

Verena Mohaupt: „Was die Polarnacht mit dem Körper und der Psyche macht, ist individuell sehr unterschiedlich. Mich stört die Polarnach überhaupt nicht. Ich habe auch noch nie gemerkt, dass sie mich müde macht.“

Woher hatten Sie das Wissen über das Leben in der Arktis? Im Physikstudium lernt man das ja nicht.

Verena Mohaupt: „Das habe ich tatsächlich aus dem Leben und Arbeiten in Spitzbergen. Dort habe ich vier Jahre lang die Klimaforschungsstation des AWI geleitet. Ich bin auch nicht Expertin für alles, es gibt viele erfahrene und gute Leute, die ich fragen konnte.“

Wollten Sie immer schon in der Arktis arbeiten?

Verena Mohaupt: „Nein, es hat sich so entwickelt. Teil der Expedition zu sein, war schon ziemlich gigantisch und großartig, aber ich habe keinen lebenslangen Plan verfolgt. Im Nachhinein gesehen baut schon alles irgendwie aufeinander auf, aber das waren einfach Gelegenheiten, die ich wahrgenommen habe.“

Was war für Sie im Rückblick das Besondere an der MOSAiC-Expedition? 

Verena Mohaupt: „Es war schon sehr beeindruckend, zu erleben, wie alle Dinge zusammenhängen. Zu sehen, wie die verschiedenen Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen über diesen Zeitraum hinweg kontinuierlich die Region untersucht haben und so gut zusammengearbeitet haben. Die Interdisziplinarität ist unglaublich wichtig. Der Klimawandel wird durch so viele Dinge beeinflusst, dass man immer über den Tellerrand blicken muss. Das ganze Projekt basiert auf so vielen kleinen Einzelheiten, die nur als Team funktionieren konnten. Das hätte keiner allein stemmen können.“

Ziel der Expedition war es, die Zusammenhänge des Klimawandels zu untersuchen. Welche Erkenntnisse haben Sie persönlich mitgenommen?

Verena Mohaupt: „Ich habe ja selbst nicht wissenschaftlich gearbeitet und keine Messdaten genommen, aber trotzdem bekommt man viel mit von den Projekten. Es war mein erstes fast volles Jahr im arktischen Meereis, und es war schon schockierend zu erleben, wie schnell und krass sich diese Region verändert hat und wie rapide der Klimawandel sich zeigt. Selbst Wissenschaftler, die seit Jahren aktiv im Meereis forschen, waren erstaunt, wie schnell der Klimawandel die Region verändert. Wenn man hautnah erlebt, was auf dem Spiel steht, bekommt der Klimawandel noch einmal eine ganz andere Dringlichkeit.“ 

Wann geht es wieder in die Arktis?

Verena Mohaupt: „Ich hoffe, dieses Jahr wieder. Aber das steht noch nicht fest, auch wegen Corona. Ich kümmere mich noch um die Station in Spitzebergen, in der ich lange war und möchte auch gern dort wieder hin.“

Die MOSAiC-Expedition.

Das Forschungsschiff „Polarstern“ war von September 2019 bis Oktober 2020 unter der Leitung des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in der Arktis unterwegs. Es ließ sich an einer zwei mal drei Kilometer großen Eisscholle festfrieren, um mit ihr durch den Polarwinter zu driften. Als die Corona-Pandemie ausbrach, stand das aufwendige und jahrelang vorbereitete Forschungsprojekt zwischenzeitlich vor dem Abbruch. Eigentlich sollte das Team auf dem Forschungsschiff Anfang April 2020 ausgewechselt werden. Auf der treibenden Eisscholle war dafür bereits eine Landebahn präpariert worden. Doch wegen der Pandemie waren alle Flughäfen rund um den Nordpol geschlossen und auch kein Eisbrecher durfte mehr ablegen. Nach einigen Wochen des Bangens konnte das Team für den letzten Abschnitt der Expedition schließlich mit einem Eisbrecher im Mai in Bremerhaven losfahren und erreichte das Forschungsschiff im Juni, um die Besatzung und Wissenschaftler:innen für den letzten von fünf Fahrtabschnitten auszutauschen.