„Wir können Ihr krankes Kind nicht behandeln“

Süddeutsche Zeitung, Wissen

Wenn Frieda durchs Wohnzimmer krabbelt, zieht sie einen Schlauch hinter sich her. Er ist 15 Meter lang und verbindet ihre Nase mit einem Sauerstofftank. Frieda hat vor Kurzem ihren ersten Geburtstag gefeiert. Es ist ein Wunder, wie gut sie sich entwickelt, sagt ihre Mutter. Elisabeth Zattler hat schon oft darum gebangt, ob ihr Kind den nächsten Tag überleben würde. Als Frieda geboren wurde, lagen einige Organe außerhalb ihres Körpers. Fünf Monate verbrachte sie in der Klinik, wurde mehrmals operiert. Jauchzend zieht Frieda sich am Sofa hoch.

„Wir haben Glück“, sagt die Mutter. Sie hat Eltern erlebt, für deren Kinder es keine Hoffnung mehr gab. Frieda braucht noch ein Sauerstoffgerät und nachts eine Atemunterstützung, aber sie hat gute Aussichten. Das hat sie der hoch entwickelten Medizin in Deutschland und den spezialisierten Ärzten der Haunerschen Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu verdanken. Es ist dieselbe Klinik, die vor zwei Monaten Frieda in einem Notfall nicht mehr aufgenommen hat. 

  Seitdem macht Zattler sich noch mehr Sorgen. Weil sie erlebt hat, wie es sich anfühlt, wenn Ärzte einem in der Notaufnahme sagen: „Tut uns leid, wir können Ihr krankes Kind nicht behandeln, wir haben kein freies Bett mehr.“ Und sie ist wütend. Nicht auf die Klinik, sondern auf die Politik. Weil kranke Kinder mittlerweile Glück brauchen, um schnell und gut versorgt zu werden. 

  Es war Mitte Oktober, als Frieda morgens aufwachte und schwer atmete. Ihr Herz schlug viel zu schnell, und ihre Temperatur stieg auf 40 Grad. Zattler rief die Kinderärztin an. Die alarmierte sofort die Haunersche Kinderklinik, in der die Ärzte Frieda bereits kannten. Sie schienen Glück zu haben, es gab ein freies Bett. Doch als die Familie eine halbe Stunde später in der Notaufnahme ankam, waren alle Betten belegt. Ein Rettungswagen hatte gerade ein schwer verletztes Kind eingeliefert.

„Das, was Frieda und ihre Eltern erlebt haben, ist längst kein Einzelfall mehr“, sagt Florian Hoffmann, Sprecher der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Oberarzt an der Haunerschen Klinik. Sechs von 16 Betten auf seiner Intensivstation sind gesperrt. Es fehlen Krankenpfleger. Eine ganze Station steht deswegen sogar leer. Immer häufiger müssen die Ärzte Kinder abweisen, weil sie keine Kapazitäten haben. „Wir steuern auf eine Katastrophe zu und rufen seit Langem um Hilfe“, sagt Hoffmann. „Doch die Politik reagiert nicht.“

Kinderkliniken, in denen Pflegekräfte fehlen, sind alltäglich geworden. Erst diese Woche meldete das Kinderkrebszentrum der Berliner Charité, aus Personalnot für mindestens zehn Tage keine neuen Patienten mehr aufnehmen zu können. Ob man mit Ärzten und Pflegern in München, Hannover, Bonn, Essen oder Celle spricht, mit Wissenschaftlern oder Eltern, alle sagen dasselbe: Kinderkliniken werden kaputtgespart. Kranke Kinder werden zwar versorgt, aber oft nicht mehr so, wie es für sie das Beste wäre.

Wie dramatisch die Situation bereits ist, berichten viele Pfleger und Ärzte nur, wenn ihr Name nicht in der Zeitung genannt wird. Die meisten Klinikleitungen verbieten ihren Mitarbeitern, öffentlich über die Missstände zu sprechen, aus Sorge, es könnte dem Ruf der Klinik schaden. Dabei ist es ein strukturelles Problem. Der zunehmende wirtschaftliche Druck in Kliniken und der Fachkräftemangel belasten alle Bereiche der Medizin. Am stärksten spüren ihn aber jene Abteilungen, die kaum oder keine Gewinne erzielen. Sie sind die Ersten, in denen gekürzt wird. Und dazu zählen die Kinderkliniken.

Wenn bei Hoffmann und seinen Kollegen kranke Kinder ankommen, die sie nicht mehr aufnehmen können, fragen sie in anderen Kliniken nach Betten. Das passiert im Herbst und Winter regelmäßig, wenn die Zahl schwerer Erkältungs- und Grippefälle zunimmt. So war es auch, als Frieda zu ihnen kam. Die städtische München Klinik erklärte sich schließlich bereit, das Kind aufzunehmen. Als die Familie dort ankam, gab es jedoch kein freies Beatmungsgerät. Frieda ging es immer schlechter. Gut sieben Stunden nach der Ankunft in der ersten Klinik fanden die Ärzte schließlich ein Bett für sie, 80 Kilometer entfernt. Frieda kam auf die Intensivstation nach Augsburg.

„Die Versorgung bei Kindern wie Frieda ist immer zeitkritisch, weil sich aus jeder Erkältung schwerwiegende gesundheitliche Probleme ergeben können“, sagt Nina Sellerer, die Kinderärztin, die Frieda ambulant betreut. Das meiste versucht sie sowieso in ihrer Praxis zu lösen. „Aber wenn ein Kind in die Klinik muss, haben wir immer größere Probleme, es unterzubringen. Und je komplexer das Krankheitsbild, desto schwieriger ist es“, sagt sie. Eine Klinik, die ein Kind mit einer schweren oder chronischen Krankheit aufnimmt, riskiert ein finanzielles Verlustgeschäft, zudem könnte das Kind wochenlang ein Bett zu belegen. „Ich muss immer abwägen. Wenn ich ein schwer krankes Kind aufnehme, kann ich vielleicht 50 andere Kinder nicht behandeln“, sagt eine Oberärztin einer Uniklinik, die anonym bleiben möchte.

Abwägen und auswählen. Das muss auch Michael Sasse täglich. Er leitet die Kinderintensivstation der Medizinischen Hochschule in Hannover. In Zimmer fünf liegt ein zwei Wochen altes Kind, Augen geschlossen. Aus seinem Brustkorb ragen Schläuche, durch die eine Herz-Lungen-Maschine Blut pumpt. Solch ein Gerät besitzen nur wenige Kliniken. Sasse und sein Team betreiben Medizin auf höchstem Niveau. Sie transplantieren Organe, behandeln Kinder mit Herzversagen, Tumoren und nach schweren Unfällen. Doch fast täglich müssen auch sie Kinder abweisen.

Im vergangenen Jahr hatte Sasse 1500 Anfragen für eine Behandlung auf seiner Station, 400 Kinder musste er abweisen. Heute Morgen hat eine Klinik aus Nordrhein-Westfalen angerufen. Sie haben ein Kind mit akutem Nierenversagen, Lebensgefahr. Die Kollegen hatten zuvor in fünf anderen Kliniken angefragt. Alle haben abgesagt. Auch Sasse hat keine freien Betten. Dabei stehen zwei Zimmer leer. Aber auch ihm fehlen Pflegekräfte.

Sasse ist Arzt geworden, um Kinder bestmöglich zu behandeln. In einem der reichsten Länder der Welt, das sich eigentlich ein exzellentes Gesundheitssystem leisten könnte. Nun muss er täglich Entscheidungen treffen, die ein Arzt nicht treffen möchte. „Wir Ärzte sind in einem ständigen ethischen Konflikt“, sagt Sasse. Er weiß, dass jede Ablehnung das Risiko erhöht: „Wenn wir einen Patienten nicht betreuen, kann es sein, dass er stirbt.“

Wie gravierend die Versorgungsdefizite sind, zeigt eine Umfrage der Cope-Studie, für die Wissenschaftler der Universität Köln mit 50 Mitarbeitern verschiedener Kliniken gesprochen haben. Der Eindruck vieler Befragter: Je größer die Kinderheilkunde an einer Klinik, umso größer der Verlust. Dieser ökonomische Druck führe zu einem systematischen Bedeutungsverlust der Kindermedizin. „Nach Ansicht vieler Studienteilnehmer orientiert sich die Versorgung immer mehr daran, was sich in der chronisch unterfinanzierten Kinderheilkunde ökonomisch noch lohnt und personell machbar ist“, sagt die Wissenschaftlerin Annic Weyersberg.

Dahinter steckt ein Abrechnungssystem, das pauschal nach Diagnosen vergütet. Aufwendige Operationen mit viel Technik werden belohnt. Mit den Patienten sprechen, Geduld aufbringen und sie pflegen werde dagegen nicht adäquat honoriert. Genau das aber brauchen kranke Kinder und ihre Eltern, sagen viele Ärzte.

„Wenn wir bei einem Baby einen zentralen Venenkatheter einführen, kann das ein bis zwei Stunden dauern. Bei einem Erwachsenen zehn Minuten“, sagt Sasse. Die Personalkosten in Kinderkliniken, die etwa 85 Prozent der Gesamtkosten ausmachen, liegen etwa 30 Prozent höher als bei Erwachsenen. Im Abrechnungssystem wird das aber nicht angemessen berücksichtigt, mit wenigen Ausnahmen wie etwa in der Neonatologie. Oft kommen Krankenkassen nicht für die tatsächlichen Kosten auf. So kann das Einsetzen neuer Kniegelenke für eine Klinik sehr lukrativ sein, während sie für ein chronisch krankes Kind noch zuzahlen muss.

Kinderkliniken sind zu Bittstellern im Gesundheitssystem geworden. Betriebswirtschaftlich ist es nachvollziehbar, dass Geschäftsführer bei ihnen zuerst sparen. In München plant das LMU-Klinikum schon seit sechs Jahren einen Neubau für seine Kinderklinik. Weil der Freistaat Bayern aber nicht bereit ist, den Bau alleine zu finanzieren, musste erst der Sultan von Oman eine Spende von 17 Millionen Euro beisteuern. Statt aber ein Leuchtturmprojekt aufzubauen, wird das Projekt immer weiter verschoben und verkleinert.

Viele Politiker behaupten dennoch, dass die Versorgung gut sei. Schließlich gebe es in Deutschland fast 18 600 Betten in der Kindermedizin, die im Jahr 2017 durchschnittlich nur zu 66 Prozent ausgelastet waren. Daher sei „auch weiterhin von eher hohen Kapazitäten“ auszugehen, so heißt es in einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Anfrage der Linken von Januar 2019.

Nur sagen die Zahlen nichts aus über die tatsächliche Versorgung. Mitgezählt werden auch die gesperrten Betten. Wer aber die Hälfte seiner Station wegen Personalmangels schließt, erreicht auch nur eine Auslastung von 50 Prozent. Und wird ein Kind mit einer ansteckenden Krankheit in ein Mehrbettzimmer gelegt, kann kein anderer Patient dort liegen. Auf Nachfrage beim Bundesgesundheitsministerium heißt es, dass der erhöhte Personalbedarf bereits in den 313 gesonderten Fallpauschalen für Kinder abgebildet sei. Doch viele davon gelten nur für die Behandlung von Früh- und Neugeborenen. Zudem werden nur erbrachte Leistungen bezahlt. Kindermedizin ist aber vor allem Notfallmedizin, im Sommer ist wenig los, in den Grippemonaten herrscht Hochbetrieb. Trotzdem muss immer der gesamte Apparat bereitstehen. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach fordert daher eine Reform des Abrechnungssystems: Kinderkliniken sollen nicht mehr mit Fallpauschalen abrechnen, sondern ihre Kosten erstattet bekommen.

Bei Kinderarzt Michael Sasse in Hannover ruft ein Kollege aus Wolfsburg an. Es geht um ein schwer krankes Neugeborenes, sein Zustand hat sich verschlechtert. Sasse organisiert drei Kollegen, die umgehend nach Wolfsburg fahren. Seine Klinik arbeitet in einem Netzwerk mit 50 Krankenhäusern zusammen. Bei komplizierten Fällen unterstützen die Spezialisten aus der Uniklinik ihre Kollegen. Doch immer öfter rufen verzweifelte Kinderärzte bei Sasse an, die nicht mehr wissen, wohin mit ihren Patienten. „In mittleren und kleineren Städten ist die Situation sogar noch dramatischer. Dort suchen alle Kliniken händeringend nach Ärzten“, sagt Martin Kirschstein, Vorsitzender der Leitenden Kinderärzte Niedersachsen.

„Oft bin ich den Großteil des Tages damit beschäftigt, Betten aufzutreiben“, sagt Sasse. Dabei werden auch enorme Ressourcen verschwendet. Und um das Unmögliche noch möglich zu machen, arbeiten alle am Limit. Viele Pfleger wollen so nicht mehr weitermachen und wechseln in Branchen, in denen sie mehr verdienen und weniger Stress und Verantwortung haben. Auch Ärzte kündigen frustriert. Einer von ihnen ist Bernd Hoppe, ehemals Leiter der Kindernephrologie der Uniklinik Bonn. „Wir hatten immer weniger Zeit für die Kinder“, sagt der Professor. „Bevor wir nach mehr Personal fragen konnten, hieß es: Sie brauchen nichts zu fordern. Stattdessen warf man uns vor, dass wir defizitär sind und effizienter arbeiten sollen.“

Es ist noch nicht lange her, dass Kinder wie Frieda keine Überlebenschancen hatten. Die Entwicklung der Kindermedizin ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Doch manche Klinikleitungen messen die Qualität ihrer Häuser nicht daran, wie viele Kinder die Ärzte und Pfleger retten. Sondern nur, ob sie mit ihnen Gewinne erzielen.