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Kleine Patienten lohnen sich nicht

Süddeutsche Zeitung, München

Der Abteilung für psychisch kranke Kinder und Jugendliche des TU-Uniklinikums rechts der Isar droht die Schließung. Dabei ist die Nachfrage in München groß, die Wartelisten sind lang und der Bedarf wächst weiter. Doch die Kinder- und Jugendpsychosomatik macht Verluste. Zwei ihrer Tageskliniken wurden bereits geschlossen. Derzeit gibt es noch eine Ambulanz, in der Familien beraten werden, sowie eine Tagesklinik für Vorschulkinder und eine für Jugendliche. „Die Klinikleitung hat uns mitgeteilt, dass unsere gesamte Abteilung geschlossen wird, weil wir zu teuer sind. Wir sollen den Familien sagen, dass wir nicht wissen, wie lange wir sie noch betreuen können“, berichten mehrere Mitarbeiter der SZ. Keiner von ihnen möchte mit Namen genannt werden.

Die Behandlung von kranken Kindern ist zeit- und personalintensiv, egal ob psychisch oder chronisch krank, ob in der Notfallambulanz oder Onkologie. Der Mehraufwand wird aber nicht angemessen bezahlt im deutschen Gesundheitssystem. Das führt dazu, dass in München nicht nur am Rechts der Isar Angebote für Kinder abgebaut werden. Alle Kinderkliniken leiden unter dem steigenden ökonomischen Druck und den damit verbundenen Sparmaßnahmen. Die medizinische Versorgung von kranken Kindern ist zunehmend gefährdet.

In die Psychosomatik am Rechts der Isar kommen Kinder und Jugendliche, die schwer traumatisiert sind, unter Bindungsstörungen oder Depressionen leiden. „Es sind die Schwächsten der Schwachen“, sagt ein Mitarbeiter. Wer ihnen helfen will, muss auch ihre Familien unterstützen. Zu dem Behandlungskonzept gehörte daher auch eine Tagesklinik für Eltern, in der die Erwachsenen intensiv mit eingebunden werden. Doch diese Tagesklinik wurde im Sommer 2019 geschlossen. Der Flurtrakt mit fünf Zimmern steht leer. Auch die Zahl der Fachkräfte sei immer weiter reduziert worden, berichten Mitarbeiter. Die Abteilung ist 2017 von der Biedersteiner Straße auf das Gelände des Klinikums Schwabing gezogen und wurde dabei vergrößert. Ausgelegt sind die Räume neben der Ambulanz offenbar für 36 Tagesklinikplätze. Belegt werden nur noch 14.

Es ist unklar, wo die Kinder und ihre Eltern nach einer Schließung stattdessen behandelt werden können. Auch in anderen Einrichtungen gibt es lange Wartezeiten. Zudem bietet die Abteilung ein ganz spezifisches Angebot, das in dieser Form einmalig ist in München. Einige der Mitarbeiter haben daher vor zwei Wochen in Briefen den bayerischen Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU) und Wolfgang Herrmann, den Präsidenten der Technischen Universität, aufgefordert, die Abteilung innerhalb der Universität unbedingt zu erhalten.

Das Klinikum rechts der Isar bestätigt, dass die Kinder- und Jugendpsychosomatik „in der aktuellen Form leider nicht weitergeführt werden“ könne. Derzeit würden aber verschiedene Szenarien geprüft. Es gebe Gespräche mit der städtischen München Klinik, um die Angebote aufrechtzuerhalten und zu bündeln. „Betriebsbedingte Kündigungen können wir ausschließen“, teilt eine Sprecherin mit. Als Grund für die „Weiterentwicklung des Bereichs“ nennt sie die „ungünstige Kosten-Erlös-Struktur“. Zur Höhe des Defizits äußert sie sich nicht.

Der SZ liegt aber ein Bericht vor, in dem ein Arzt, der Professor an einer anderen Uniklinik ist, im Juli 2019 Empfehlungen für die Abteilung am Rechts der Isar erarbeitet hat. Darin heißt es, dass in diesem Jahr mit einem Defizit von 700 000 Euro für die Abteilung gerechnet wird. Der Autor des Berichts plädiert trotzdem für ihre Fortführung, da sie „in wissenschaftlicher als auch in klinischer Hinsicht von großer Bedeutung“ sei.

Früher war ein Defizit in einem klinischen Bereich kein Ausschlusskriterium, um weiterzumachen“, sagt Werner Hüttl. Der Arzt hat fast zehn Jahre lang die Kinderpsychosomatik geleitet, bis er 2010 eine eigene Praxis eröffnete. „Heute verlieren Abteilungen ihre Existenzberechtigung, wenn sie nicht kostendeckend arbeiten“, klagt Hüttl. Er plädiert dafür, nach anderen Finanzierungsmodellen zu suchen.

Die Arbeit in den Tageskliniken sei therapeutisch sehr wirksam. „Die Kinder und Jugendlichen haben dort eine feste Tagesstruktur und können trotzdem zu Hause schlafen.“ Doch das erfordert viel Personal. „Unser Abrechnungssystem bildet die spezifischen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht ab“, kritisiert Hüttl. „Rein rechnerisch ist es gar nicht möglich, mit den Tageskliniken für Kinder schwarze Zahlen zu schreiben.“ Und der Mangel an Fachkräften trifft zwar alle medizinischen Bereiche. Am meisten zu spüren bekommen ihn aber die Bereiche, die kaum oder keine Gewinne erzielen. Sie sind die ersten, in denen Ressourcen gekürzt werden.

Dass besonders die Kindermedizin zu den Leidtragenden dieses ökonomischen Drucks gehört, belegt eine aktuelle Studie vom interdisziplinären Forschungszentrum Ceres der Universität Köln, die vergangene Woche im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde. Je größer die Kinderheilkunde an einer Klinik werde, umso mehr Geld verliere man. Das führe zu zunehmender Abhängigkeit, fehlender Gestaltungsfreiheit und einem systematischen Bedeutungsverlust der Kinderheilkunde, schreiben die Wissenschaftler.

Egal in welche Kinderklinik man schaut, alle verwalten den Mangel. Das erlebt auch Florian Hoffmann täglich. „Bei uns in der Kinderklinik sind derzeit 51 Betten gesperrt“, sagt der Oberarzt der Intensivstation der Haunerschen Kinderklinik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Immer wieder müssen schwerkranke Kinder in Krankenhäuser bis Traunstein oder Garmisch-Partenkirchen verlegt werden. Nicht, weil in München die Expertise fehlen würde. Im Gegenteil. Viele Ärzte zählen hier zu den renommiertesten ihres Faches. Es mangelt schlicht an Personal, um alle Betten zu belegen. „Immer mehr kindermedizinische Abteilungen werden klein- oder kaputtgespart“, so Hoffmann. „Wir sind ein Defizitgeschäft. Wenn wir ein gewinnbringendes Fach wären, könnten wir auch mehr Personal fordern.“ Im Haunerschen steht seit Jahren sogar eine ganze Station leer, weil Krankenpfleger fehlen.

Dabei hat Marion Kiechle (CSU), einstige bayerische Wissenschaftsministerin, im April 2018 versprochen, den Personalmangel anzugehen, nachdem die SZ über die Missstände im Haunerschen berichtet hatte. „Es hat sich seitdem nichts getan“, sagt Hoffmann. Vergangenen Winter habe sich die Situation sogar noch verschlechtert. „Alle Kliniken hatten ständig ihre Notaufnahmen abgemeldet.“ Und der Kinderarzt blickt besorgt auf den nächsten Winter. „Dann werden wir wieder jeden Tag Kinder aus der Stadt wegschicken müssen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu.“ Für die Patienten bedeuten die Transporte in andere Kliniken eine Belastung und ein zusätzliches Risiko. Und sie binden Personal. Nicht nur Rettungssanitäter fahren bis nach Traunstein und zurück, sondern oft muss auch noch ein Arzt das kranke Kind begleiten. Personal, das dringend in den Kliniken gebraucht wird.

Kommentar dazu:

Ein krankes System

Bayern ist reich. München ist reich. Dass ausgerechnet hier die Behandlung notleidender Kinder unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrieben wird, ist ein Armutszeugnis

Die Klinikleitungen machen ihre Aufgabe gut. In der Logik eines betriebswirtschaftlichen Unternehmens ist es nicht sinnvoll, kranke Kinder zu behandeln. Das ist personalintensiv, kostet viel Geld und bringt wenig ein. Da ist es nur logisch, die Kinderabteilungen herunterzufahren oder gar ganz zu schließen. Wie es nun der Kinderpsychosomatik am TU-Uniklinikum droht.

Wenn Ärzte, Psychologen und Pfleger in Kliniken wirklich das Wohl der kranken Kinder zum Ziel haben, können sie nur rote Zahlen schreiben. Denn der Fehler liegt im deutschen Gesundheitssystem. Wie eine medizinische Leistung vergütet wird, ist schließlich keine Frage des freien Marktes. Warum eine Knieoperation lukrativ sein kann, die Pflege eines Kindes aber nicht, basiert auf einer Entscheidung, die Politik und Krankenkassen getroffen haben. Damit auch Kinderkliniken für ihre Arbeit kostendeckend vergütet werden, muss das Abrechnungssystem dringend geändert werden.

Solange Kindermedizin aber ein Minusgeschäft ist, ist es eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, die Versorgung von kranken Kindern sicherzustellen. Wer würde auf die Idee kommen, eine viel befahrene Autobahn zu sperren, weil ihr Unterhalt zu teuer ist? Oder Münchens Bäder, U-Bahnen oder Theater zu schließen, weil sie defizitär arbeiten? Ist es nicht genauso absurd, Kinderkliniken klein zu sparen?

Der Freistaat Bayern ist zuständig dafür, dass in den beiden Münchner Unikliniken nicht nur lukrative Patienten, sondern auch Kinder angemessen versorgt werden. Statt dies sicherzustellen, baut die TU-Klinik gerade ihre Kinderpsychosomatik ab und die Ludwig-Maximilians-Universität plant seit sechs Jahren bisher eher erfolglos eine neue Kinderklinik. Das Projekt wird dabei immer weiter zusammengestrichen, die Klinik spricht euphemistisch davon, sie wolle es „kompakter“ fassen. Der Freistaat fordert einen großen finanziellen Eigenanteil von der Klinik, weil es in Deutschland nicht selbstverständlich ist, Geld für die Versorgung von Kindern auszugeben. Und dass die LMU-Klinik ihren Anteil überhaupt erst zusammenbekam, als der Sultan von Oman 17 Millionen Euro spendete, ist ein weiterer Tiefpunkt in der Geschichte der deutschen Kinderheilkunde.