„Aus den Augen, aus dem Sinn“: Nach diesem Motto wurde nach 1945 tonnenweise Munition in Nord- und Ostsee verklappt.
Nun zersetzen sich die Kampfmittel und gefährden Schifffahrt, Umwelt – und auch die Menschen an Land. „Das sind tickende Zeitbomben“, sagen Wissenschaftler.
Wer am Strand steht und auf die Nordsee blickt, ahnt wohl kaum, welche Gefahr auf ihrem Grund liegt. „Das sind Wasserbomben“, sagt Sven van Haelst. Er zeigt ein Foto, das er von einem Schiffswrack auf dem Meeresgrund aufgenommen hat. Ist es nicht gefährlich, dort zu tauchen? „Normalerweise explodieren die Wasserbomben nicht so schnell“, sagt der Forschungstaucher und Unterwasserarchäologe. Normalerweise? Na ja, schränkt er dann ein, berühren sollte man sie natürlich nicht. Aber viel gefährlicher sei etwas anderes.
Der Forschungstaucher zeigt weitere Fotos, die er in der Nähe der Insel Helgoland aufgenommen hat. Im trüben Nordseewasser sind Tellerminen mit 42 Zentimeter Durchmesser zu erkennen, auf ihren Oberflächen wachsen keine Algen, nur dunkelbraune Verfärbungen sind zu sehen. „Das ist TNT“, sagt van Haelst, der am wissenschaftlichen Vlaams Instituut voor de Zee in Belgien arbeitet. Trinitrotoluol (TNT) ist der am häufigsten verwendete Sprengstoff, und er gilt als krebserregend.
Am Ende kann das Zeug auch in der Nahrungskette landen
Auf dem Grund der Nord- und Ostsee liegt tonnenweise Kriegsschrott. Schiffswracks, Patronen, Bomben, Granaten, Panzerfäuste und Minen aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Seit mehr als 75 Jahren rosten diese Hinterlassenschaften weitgehend unbeachtet vor sich hin. Experten schätzen, dass allein in deutschen Gewässern der Nord- und Ostsee 1,3 Millionen Tonnen Kriegsmunition versenkt wurden. Das größte Problem ist, dass die metallischen Hüllen zunehmend durchrosten und der Sprengstoff so ins Wasser gelangt. Die chemischen Substanzen können zu einer Gefahr für das Ökosystem werden und über die Nahrungskette, über Pflanzen, Fische und Muscheln, bis zum Menschen gelangen.
Wo genau befindet sich wie viel Munition? Welche Risiken gehen von den rostenden Kriegswracks aus? Und wie kann man die Munition entschärfen oder bergen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich seit drei Jahren das interdisziplinäre Forschungsprojekt „North Sea Wrecks“, an dem Institute und Universitäten aus fünf Ländern beteiligt sind. In der Ostsee wird die Kriegsmunition auf dem Meeresgrund schon länger untersucht, in der Nordsee ist es die erste große Analyse dieser Art. Die Wissenschaftler zeigen nun ihre bisherigen Ergebnisse in einer Sonderausstellung des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) in Bremerhaven , die vergangene Woche eröffnet wurde. Die Schau „Toxic Legacies of War – North Sea Wrecks“ (übersetzt: „Das giftige Erbe des Krieges – Nordseewracks“) wird nun ein Jahr lang als Wanderausstellung durch Deutschland und die Anrainerländer der Nordsee touren.
„Wir untersuchen die Wracks und ihre Ladungen und bewerten die Risiken“, sagt Sunhild Kleingärtner, Direktorin des DSM, Leiterin der Ausstellung und Professorin an der Universität Bremen. Auf einem großen Bildschirm sind Filmaufnahmen zu sehen, die van Haelst und die anderen Taucher von den Wracks auf dem Meeresgrund gemacht haben. An interaktiven Stationen können Besucher nachvollziehen, wie die Wissenschaftler die Wracks im Meer finden, wie sie dort Proben entnehmen, diese in Labors untersuchen und die Ergebnisse auswerten.
Die Munitionsreste stammen nicht nur von in Seeschlachten versenkten Schiffen
Mehr als 680 munitionsbeladene Wracks werden noch in den belgischen, niederländischen, deutschen, dänischen und norwegischen Gewässern der Nordsee vermutet. Sie stammen nicht nur von Schiffen, die während der beiden Weltkriege in Seeschlachten versenkt wurden. 1945 lagerten in ganz Deutschland noch Unmengen Munition und da eine Vernichtung an Land zeitaufwendig und gefährlich war, wurde das Material einfach ins Meer gekippt. „Man hat gedacht: ,Aus den Augen, aus dem Sinn'“, sagt DSM-Direktorin Kleingärtner. „Und das Meer als Müllkippe benutzt.“
Um das Ausmaß zu erfassen, müssen die Standorte der Wracks und der Munition zunächst identifiziert und kartiert werden, eine oft kleinteilige und mühevolle Arbeit. In Archiven gebe es zwar zahlreiche Akten mit Militäraufzeichnungen und historischen Seekarten, auf denen auch die Versenkungsgebiete nach dem Krieg eingetragen wurden, aber nicht immer stimmten sie mit den tatsächlichen Fundorten überein, sagt Cornelia Riml, Mitarbeiterin am Schifffahrtsmuseum. Die Gezeiten und die starken Strömungen in der Nordsee haben einiges weggetrieben und viele Wracks sind von Sediment und Sand überspült worden. Zudem haben sich nicht alle Schiffer an die vereinbarten Versenkungsorte gehalten und Munition mitunter schon auf dem Weg dorthin über Bord gekippt.
Forschungstaucher und Tauchroboter suchen nun nach den Wracks. Van Haelst ist in den vergangenen drei Jahren mehr als 30 Mal für das Projekt in der Nordsee getaucht und hat dort Foto- und Filmaufnahmen von den Schiffswracks gemacht, die in einer Tiefe von etwa 30 bis 40 Meter liegen. Die Taucher haben Plankton von den Bordwänden gekratzt, Pflanzen, Fische, Krebse sowie Wasser- und Sandproben gesammelt und an den Wracks Netze mit Miesmuscheln befestigt. Nach einigen Monaten wurden die Muscheln wieder geborgen und von Toxikologen analysiert, denn sie filtrieren große Wassermengen und sind so gute Indikatoren, um Belastungen durch Schadstoffe zu messen.
In nächster Nähe zu den Wracks sterben die Jungfische
„Wir haben festgestellt: Je stärker die Munition durchgerostet ist, umso mehr von den chemischen Substanzen gelangen in die Umwelt“, sagt Edmund Maser, Professor am Institut für Toxikologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH). Die Muscheln, die dort versenkt wurden, weisen erhöhte TNT-Werte auf. Und 25 Prozent der Fische in solchen Gebieten haben Lebertumoren. Fische nutzen die verrosteten Minen zudem als Höhlen und legen darin ihre Eier ab. „Dort ist die TNT-Konzentration mit drei Milligramm pro Liter so hoch, dass die Jungfische sterben“, sagt Maser. Es sei zu befürchten, dass dadurch auch die Fischbestände abnehmen.
Die Hinterlassenschaften des Krieges sind nicht nur für das Ökosystem eine Gefahr. Der in Brandbomben enthaltene weiße Phosphor bleibt langfristig entzündbar und wird beim Sammeln am Strand oft mit Bernstein verwechselt. Auch bei der Verlegung von Seekabeln, beim Bau von Offshore-Windparks, für die Fischerei und die Schifffahrt können Seeminen zu einem gefährlichen Hindernis werden. 2005 zogen drei niederländische Fischer eine Kriegsbombe aus dem Wasser und starben dabei. Im vergangenen Jahr überlebte die Crew eines englischen Fischkutters nur knapp und wurde teilweise schwer verletzt, als Munition explodierte.
Um ein Gesamtbild der Belastungen zu erheben und diese zu bewerten, werden die Daten der Historiker, Taucher und Toxikologen digital erfasst, zusammengeführt und ausgewertet. „Wir entwickeln ein internationales Munitionskataster, in dem wir alles aufzeichnen, was weltweit an Munitionsbelastung vorhanden ist“, sagt Jann Wendt, der mit seiner Firma Egeos auch für das North-Sea-Wrecks-Projekt ein Softwaremodell entwickelt . Die Risikobewertung soll zeigen, wo das Problem am drängendsten ist – und wo als erstes gehandelt werden muss. „Es sind riesige Flächen und wir versuchen, ein möglichst genaues Bild zu generieren, das uns sagt, wo die größten Hotspots sind“, sagt Wendt. In der Ostsee liegt so ein Hotspot beispielsweise in der Kolberger Heide, einer Sandbank nur wenige Kilometer vor der Küste von Kiel, wo 18 000 Großsprengkörper versenkt worden sein sollen.
„Das sind tickende Zeitbomben“
Dank ferngesteuerter und autonom fahrender Roboter ist es heute technisch möglich, die Munition zu bergen und zu entschärfen. Doch das ist teuer und bisher fehlt es an politischem Willen, das Geld bereitzustellen. Wo Bergungen nicht möglich sind, müssen die Kriegsreste gesprengt werden. Das aber ist gefährlich und umstritten. Denn der Sprengstoff kann sich dabei noch weiter verteilen und der Explosionsknall kann das Gehör von Meerestieren wie Walen schwer verletzen. Komplexe rechtliche Fragen erschweren zudem das Thema, nationale Zuständigkeiten sind nicht immer einfach zu klären. Und viele der Wracks sind gleichzeitig Seegräber.
„Noch haben wir einen Handlungsspielraum“, sagt Claus Böttcher vom Umweltministerium in Schleswig-Holstein, der auch dem Beirat des North-Sea-Wrecks-Projektes vorsitzt. Aber die Zeit drängt. „Das sind tickende Zeitbomben“, sagt Böttcher. Die Munitionshülsen rosten nicht nur durch, zusätzlich wirkt das Sediment auf ihnen wie Schmirgelpapier. Und sind die giftigen Sprengstoffe erst einmal ausgetreten, gibt es keine Chance mehr, sie wieder einzufangen.