Foto: Amanda Dahms

„Ich habe erlebt, wie es ist, alles zu verlieren“

Süddeutsche Zeitung, Wirtschaft
REDEN WIR ÜBER GELD MIT KARELLA EASWARAN

Karella Easwaran kommt direkt aus ihrer Praxis. Heute war viel los, sagt die Kinder- und Jugendärztin, viele Patienten mit dem RS-Virus. Easwaran, 56, ist in Äthiopien geboren und aufgewachsen, hat als Kind dort den Bürgerkrieg erlebt und ist zum Studium nach Ungarn gegangen. Ein Zufall führte sie anschließend nach Köln, wo sie Kinder und Jugendliche behandelt. Dabei hat die Ärztin beobachtet, dass die Ängste und der Stress von Eltern deutlich zunehmen, obwohl viele Krankheiten wegen Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen nur noch selten auftreten. Um den Familien zu helfen, gelassener und gesünder zu leben, hat sie die Denkstrategie des „Beneficial Thinking“ entwickelt und darüber zwei Bestseller geschrieben. Ob sie vor dem Interview noch etwas Zeit zum Ankommen brauche? Easwaran lacht. „Nee, ich bin da! Was wollen Sie wissen?“

SZ: Reden wir über Geld. Sie waren erst 16 Jahre alt und sprachen kein Ungarisch, als Sie Ihre Familie und Äthiopien zum Studium verließen. Konnten Sie von Ihrem Stipendium im damals sozialistischen Ungarn gut leben?

Karella Easwaran: Durch das Stipendium war die Unterkunft gesichert, ich hatte etwas Taschengeld und es gab eine Mensa, in der wir essen konnten. Das war sehr praktisch, aber ziemlich bescheiden. Aber ich hatte viele Ideen und habe dadurch immer ganz gut verdient. Während des Studiums habe ich Englisch unterrichtet und kleinere Statistenjobs für Fernsehen und Kino übernommen. Ich war das einzige dunkelhäutige Mädchen in der ganzen Stadt und sehr schlank. Eine Frau, die gelbe Pullover strickte, fragte mich, ob sie mich in den Pullovern fotografieren dürfe. Sie hat die Fotos in ihrer Boutique aufgehängt und ich habe dafür recht viel Geld bekommen.

Sechs Jahre später haben Sie Ihr Medizinstudium in Ungarn mit der Auszeichnung „cum laude“ und einer Promotion abgeschlossen. Wie haben Sie das gemacht?

Ungarn war natürlich ganz anders als Äthiopien. Ich habe mich in Budapest zuerst in den Sprachkurs gestürzt, um Ungarisch zu lernen und die Zulassung zum Medizinstudium zu bekommen. Damit wurde ich dann an eine Uni in Südungarn geschickt. Es war schon abenteuerlich, denn im ersten Uni-Jahr habe ich wirklich wenig verstanden. Ein Professor hat mir sogar empfohlen, etwas anderes zu studieren. Das hat mich aber eher noch angespornt. Ich wollte unbedingt einen guten Abschluss machen, um damit, wo auch immer ich danach hingehe, bessere Chancen zu haben. Dafür habe ich mich tatsächlich sechs Jahre lang in die Arbeit gestürzt.

Das klingt anstrengend.

Ich habe damals wenig darüber nachgedacht und mich auf mein Ziel fokussiert. Ein lustiges Studentenleben war das nicht. Das habe ich erst später in Deutschland kennengelernt.

Nach Ihrem Studium sind Sie nach Deutschland gegangen, wo Sie zunächst als Model gearbeitet haben. Ein Jahr später haben Sie in der Uniklinik Köln angefangen. War das finanziell gesehen eine gute Entscheidung?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe damals als Model wirklich sehr gut verdient, das stand in keinem Vergleich zu dem, was ich in der Uniklinik bekam. Aber ich wollte unbedingt die Facharztausbildung für Kinder- und Jugendmedizin machen. Als ich dann die Stelle an der Uniklinik erhielt, war das für mich keine schwierige Entscheidung. Ab und an habe ich danach auch noch als Model gearbeitet, und diese Mischung war spannend.

Was haben Sie damals mit dem Geld gemacht?

Als erstes habe ich mir eine schöne Wohnung in Köln gemietet und meine Familie in Äthiopien unterstützt, da mein Vater kurz zuvor gestorben war.

Sie sind in Äthiopien geboren. Wie hat das Ihr Verhältnis zu Geld geprägt?

Anders als der Großteil der Bevölkerung in Äthiopien bin ich eher wohlhabend aufgewachsen. Mein Vater war Journalist und Diplomat und hat gut verdient. Ich hatte eine schöne und sorgenfreie Kindheit zusammen mit meinen fünf Geschwistern. Bildung war meinen Eltern sehr wichtig. Wir gingen auf eine englische Privatschule und es war klar, dass ich studieren würde.

Aber als Sie zehn Jahre alt waren, brach der Bürgerkrieg aus.

Der Kaiser wurde gestürzt. Ich habe erlebt, wie es ist, alles zu verlieren. Eine kommunistische Regierung kam an die Macht und unser geordnetes Leben wurde plötzlich durch den Bürgerkrieg zerstört. Mein Vater verlor seinen Job. Alle hatten nur noch wenig Geld und es gab auch keine Möglichkeit mehr, durch Arbeit etwas zu verdienen. Das ganze Land ging den Bach herunter. Viele Menschen starben an Hunger und in Unruhen. Geld kann man schnell verlieren, das war für mich eine Lehre fürs Leben.

Warum sind Sie dann ausgerechnet nach Ungarn gegangen?

Ich war fest entschlossen, Medizin zu studieren und es war mir egal wo. In Äthiopien waren die Universitäten wegen des Kriegs geschlossen. Ich bin zweisprachig aufgewachsen, Amharisch und weil mein Vater aus Indien stammte, sprachen wir zu Hause auch Englisch. Ein Studium in England oder den USA war aber nicht bezahlbar. Ich hatte Glück, das Stipendium für ein Studium in Ungarn zu erhalten.

Was hat Ihnen in dieser Zeit die Kraft gegeben, nicht zu resignieren?

Was mich immer gestärkt hat, ist die Sicht nach vorne. Ich gucke nicht nach hinten, das ist vorbei, das haben wir in unseren Erinnerungen. Wenn etwas nicht gut nicht läuft, frage ich mich, wie komme ich da raus? Wer kann mir helfen? Was muss ich tun? Das ist eine wahnsinnig tolle Methode, weil ich so nicht in Selbstmitleid verfalle und meine Verluste betrauere, sondern mir neue Wege eröffne. Das ist die Basis des „Beneficial Thinking“.

„Beneficial Thinking” ist eine Denkstrategie, die Sie entwickelt haben, um nicht nur Ihren jungen Patienten, sondern auch gestressten Eltern zu helfen. Wie können wir denn in Stresssituationen einen kühlen Kopf bewahren?

Viele Stresssituationen haben mit bestehenden Denkmustern zu tun. „Beneficial Thinking“, auf Deutsch vorteilhaftes Denken, basiert auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über die Funktionsweise des Gehirns. Denn die Lösung unserer Probleme beginnt im Kopf. Wenn wir das besser verstehen, können wir unsere Gedanken mit gezielten und einfachen Übungen in eine vorteilhafte Richtung lenken und durch einfache Übungen unsere Wahrnehmung und unser Verhalten ändern und so Ängste und Stress besser vorbeugen und bewältigen.

Warum richten Sie Ihr zweites Buch „Das Geheimnis ausgeglichener Mütter“ speziell an Mütter?

Muttersein ist der stressigste Job der Welt, das weiß ich aus eigener Erfahrung, ich habe auch zwei Söhne. Und die enormen Belastungen und Anforderungen haben in den letzten Jahren noch deutlich zugenommen. Oft erlebe ich erschöpfte und besorgte Mütter in meiner Sprechstunde. Sie haben neben dem Kind noch so viele andere Herausforderungen und die Hauptlast der Familienarbeit tragen heute immer noch die Mütter. Geraten sie in eine negative Spirale aus Stress und Ängsten, kann sich das negativ auf die Kinder und die ganze Familie auswirken. Hilfe und psychische Unterstützung für die Mütter verbessern automatisch auch das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der Kinder.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Ihre eigenen Eltern Ihnen immer ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen vermittelt haben, selbst während der Zeit des Bürgerkriegs. Wie kann es sein, dass hierzulande so viele Eltern von Stress und Ängsten geplagt sind, obwohl wir in einem so reichen und sicheren Land leben?

Oft sind Eltern heute allein gelassen, die Verunsicherung ist groß und das eigene Vertrauen gering. Es fehlen sozialen Netzwerke, die Familien leben weit auseinander und es fehlt an Unterstützung durch die Gesellschaft. Hinzu kommt die Informationsflut, die ständig auf uns einwirkt, in einem Ausmaß, dass wir das Gefühl haben, immer und überall vorsichtig sein zu müssen. Das ist aber nicht so. Die Welt hat sich nicht verschlechtert, sondern verbessert. Es ist wahnsinnig wichtig, uns das klar zu machen. Angst hemmt die Entwicklung unserer Kinder und führt zu Stress, und Stress führt zu Krankheiten. Das erlebe ich täglich in meiner Praxis. Deswegen ist es auch so wichtig, die ganze Familie in den Blick zu nehmen.

Ihre Praxis führen Sie mittlerweile seit mehr als 20 Jahren. Sind Sie zufrieden, mit dem, was Sie heute als Kinderärztin verdienen?

Ich empfinde meinen Job als Berufung. Meine Patienten und ihre Eltern geben mir tagtäglich so viel Bestätigung, das ist nicht mit Geld zu bezahlen. Ich habe genug und komme gut klar, aber die Herausforderungen der Verwaltungsarbeit, Praxisführung und Bürokratie nehmen jedes Jahr zu. Und die Vergütung der Kinder- und Jugendärzte ist eher gering im Vergleich zu anderen Fachrichtungen. Ich arbeite sehr viel, nicht nur in der Praxis. Nebenher halte ich auch Vorträge, schreibe Bücher und Kolumnen und habe Fernsehaufträge.

Hätten Sie damals Ihren Facharzt zur Radiologin oder Orthopädin gemacht, würden Sie heute wohl mehr verdienen.

Ja, aber entscheidend ist, was man will. Ich habe eine Entscheidung getroffen und die bedauere ich überhaupt nicht. Man braucht schon eine angemessene Summe Geld, um etwas Freiheit zu haben und nicht gestresst zu leben. Aber mehr Geld macht nicht unbedingt glücklicher. Es ist viel befriedigender, wenn man eine Tätigkeit ausübt, in der man aufgeht.

Trotzdem müssen Sie auch wirtschaftlich denken, Ihre Angestellten und die Miete bezahlen.

Wir überlegen uns in meiner Praxis immer neue Wege. Dass die Praxis finanziell so stabil ist, hat aber auch viel damit zu tun, dass ich neben der Praxis auf vielen anderen Gebieten tätig bin, was mich wiederum sehr zufriedenstellt.

Für einen Patienten, der einmal im Quartal zu Ihnen in die Sprechstunde kommt, erhalten Sie die gleiche Pauschale wie für ein chronisch krankes Kind, das jede Woche kommt.

Das System der Krankenkassen ist schwierig und kaum nachvollziehbar. Gerade jetzt, wo so viele Kinder Atemwegserkrankungen mit dem RS-Virus haben, kommt das häufig vor. Wir bekommen für jedes Kind in der Sprechstunde pro Quartal eine Fallpauschale, egal wie oft es kommt. Ich hatte heute viele Kinder, die in diesem Monat schon drei- oder viermal bei mir waren. Das geht dann irgendwann nicht mehr.

Viele Kinderarztpraxen nehmen keine neuen Patienten mehr auf. Haben Sie auch schon einen Aufnahmestopp verhängt?

Bisher nicht, aber wenn es so weitergeht wie jetzt, können wir auch keine neuen Patienten aufnehmen. Das schaffen wir nicht mehr. Und viele Familien in Köln finden jetzt schon keinen Kinderarzt mehr. Ich kann aber auch nicht einfach sagen, ich verlängere die Sprechstunden oder stelle weitere Ärzte ein.

Warum nicht?

Wir haben ziemlich strenge Richtlinien und dürfen uns nicht beliebig erweitern. Ich habe nur eine Niederlassung, also darf ich auch nur so viele Stunden als Kassenarzt arbeiten, wie das Budget für diesen Fachbereich erlaubt. Das ist alles von der Kassenärztlichen Vereinigung vorgegeben. Viele Kinderärzte kommen nur schwer über die Runden. Der Arztberuf ist für viele junge Menschen nicht mehr besonders attraktiv, und inzwischen mangelt es überall an Nachwuchs.

In diesem Herbst breitet sich das RS-Virus früher und heftiger unter Kindern aus, warnen derzeit viele Ärztinnen und Ärzte. Erleben Sie das auch so?

Ja, so viele schwerkranke Kinder mit dem RS-Virus wie jetzt, das habe ich noch nie erlebt. Covid-19 ist tatsächlich wenig relevant für die Kinderarztpraxen. Aber wir sehen täglich mit dem RS-Virus infizierte Babys mit Luftnot, Bronchitis und Lungenentzündungen, die wir in die Klinik einweisen müssen. Die Praxen sind voll und die Kliniken sind völlig überlastet. Wir Kinderärzte rechnen Anfang des nächsten Jahres mit einer Influenzawelle, die noch dazu kommt. Besonders für chronisch kranke Kinder kann das gefährlich werden. Deshalb kann ich nur raten, dass jeder die Angebote für Impfungen annimmt.

Wie kann es sein, dass in einem so reichen Land, die Kinderkliniken regelmäßig überlastet sind?

Die wirtschaftliche und personelle Lage in den Kinderkliniken ist alles andere als gut. Viele junge Menschen sehen in den pflegerischen und medizinischen Berufen keine Zukunft mehr. Die Arbeit ist mit sehr viel Verantwortung verbunden. Der Schichtdienst und die langen Arbeitszeiten sind anstrengend, und das bei eher mäßiger Bezahlung. Dabei ist dieser Beruf etwas ganz Besonderes. Und unsere Gesundheit doch das Wichtigste im Leben.