Körper unter Kontrolle

Süddeutsche Zeitung, Wissen

Vor Kurzem wurde Mona auf der Station für Essstörungen der LWL-Universitätsklinik Hamm aufgenommen. Die Jugendliche hatte innerhalb von nur zwei Monaten 20 Kilogramm abgenommen. Dabei hatte es ganz harmlos angefangen. Während des Lockdowns begann Mona mit einer Diät und machte täglich Sport. Dass sie eine Essstörung entwickelte und dringend Hilfe brauchte, bemerkten ihre Eltern erst, als Mona Kreislaufprobleme bekam und in Ohnmacht fiel. „Die Patientin ist normalgewichtig, trotzdem ist ihr Körper massiv mangelernährt. Sie hat Herzrhythmusstörungen, und es macht ihr große Angst, etwas zu essen“, sagt Tanja Legenbauer. Die Professorin leitet die Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LWL-Universitätsklinik Hamm.

Legenbauer vermutet, dass Essstörungen während der Pandemie komprimierter und schneller verlaufen. Das könne daran liegen, dass Kinder und Jugendliche sehr viel Zeit, keine Tagesstruktur, kaum soziale Kontakte haben und viel mehr um sich selbst kreisen. Viele Eltern würden zudem unterschätzen, wie gefährlich eine Gewichtsabnahme sein kann. Besonders wenn ihre Kinder nicht auffällig abgemagert sind.

Das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat sich seit Beginn der Pandemie deutlich verschlechtert. Das zeigen die neuen Ergebnisse der Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, die kürzlich veröffentlicht wurden. Jedes dritte Kind zeigt demnach eine psychische Auffälligkeit. Fragt man bei Ärzten und Psychologen nach, äußern sich viele von ihnen besonders besorgt über die starke Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen wie Magersucht, Bulimie und Binge-Eating – betroffen sind davon vor allem Mädchen und Frauen.

Die Wartezeiten sind selbst für schwer abgemagerte Betroffene angestiegen

„Wir erleben derzeit viele verzweifelte Menschen mit Essstörungen, die dringend behandelt werden müssten, denen wir aber nicht sofort einen Behandlungsplatz anbieten können“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Ulrich Voderholzer. Darunter seien auch viele Patientinnen mit Magersucht oder Bulimie, die bereits stabil waren und jetzt wieder Rückfälle erlitten haben. Voderholzer ist Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, die unter anderem auf Essstörungen spezialisiert ist. Solch einen starken Andrang wie derzeit habe er in den vergangenen Jahren noch nie in der Klinik erlebt.

Es sei bitter, sagt Voderholzer, dass selbst für schwerst abgemagerte Patientinnen und Patienten die Wartezeiten mittlerweile deutlich angestiegen seien. „Eigentlich sollten solche Notfälle überhaupt nicht warten müssen.“ Gerade bei Magersucht, der Anorexia nervosa, ist eine frühzeitige Behandlung wichtig. Bleibt sie unbehandelt, steigt das Risiko, dass sie chronisch wird. Eine Essstörung bedeutet für die betroffenen Familien zudem eine enorme Belastung. „Die Krankheit löst oft große Ängste bei den Eltern aus, dass ihr Kind sterben könnte“, sagt Voderholzer. Magersucht ist laut der S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlungen der Essstörungen“ die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalität. Betroffene haben laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein mehr als fünffach höheres Risiko, frühzeitig zu sterben, als Gleichaltrige ohne Erkrankung.

Essstörungen sind vor allem Kompensationsmechanismen, um mit negativen Gefühlen und Gedanken umzugehen. „Das Gefährliche an der Magersucht ist, dass sie ein unglaubliches Potenzial hat, ein Gefühl von Stärke und Erfolg zu vermitteln“, sagt Tanja Legenbauer. Die Betroffenen hätten meist einen hohen Leistungsanspruch an sich selbst, manchmal auch genetische Vorbelastungen. „Dann kann es unter Stress zu einer Eigendynamik kommen – und der Lockdown bedeutet Stress. Wenn die Kinder und Jugendlichen nicht zur Schule gehen, keine Freunde treffen, kann das Abnehmen zu einem sich selbst verstärkenden Mechanismus werden.“ Exzessiver Sport und die intensive Beschäftigung mit dem Gewicht ersetzen dann die fehlende Tagesstruktur.  …

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