In langen Prozessionen ziehen die Raupen die Bäume hinab, um Nahrung zu suchen. Die kleinen Tiere sehen harmlos aus, doch ihre Körper sind mit Hunderttausenden winzigen Brennhaaren besetzt. Eichenprozessionsspinner haben in den vergangenen Sommern vielerorts in Deutschland Unruhe ausgelöst. Spielplätze, Parks und Schulhöfe wurden gesperrt, weil dort Eichen befallen waren. Wenn die Raupe ihre feinen Haare abwirft, verbreitet sie der Wind; das darin enthaltene Nesselgift Thaumetopein führt zu Juckreiz auf der Haut, reizt Augen und Atemwege bis hin zur Atemnot. Der Eichenprozessionsspinner ist zwar eine heimische Art, doch erst die milden Frühlingstemperaturen und die heißen, trockenen Sommer haben dazu geführt, dass sich die Tiere massenhaft vermehren.
Eichenprozessionsspinner, könnte man jetzt sagen, sind zwar unangenehm, aber wahrlich keine akute Gesundheitsbedrohung, nicht in einer Zeit, in der ein hochinfektiöses Atemwegsvirus die Runde macht. Nur, so einfach ist es nicht, denn die kleinen Krabbeltiere sind Anzeichen einer Krise, die die Corona-Pandemie um ein Weites übersteigen könnte. „Nicht der Planet hat ein Problem, sondern wir haben ein Problem, wenn wir die Erde nicht bewohnbar erhalten“, sagt Claudia Traidl-Hoffmann, Direktorin des Instituts für Umweltmedizin am Helmholtz Zentrum München und Chefärztin der Hochschulambulanz für Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg. „Die Klimakrise ist vor allem eine Gesundheitskrise.“
Traidl-Hoffmann forscht zu den Folgen von Erderwärumung und Umweltverschmutzung für die Gesundheit. Die Auswirkungen seien längst auch in Deutschland angekommen, etwa Hitzewellen im Sommer, die besonders für Kleinkinder, kranke oder ältere Menschen gefährlich sein können. Als Allergologin beobachte sie zudem mit Sorge, dass Menschen immer häufiger an schwereren allergischen Reaktionen leiden, die zu chronischen Erkrankungen führen können.
„Früher hatten Allergiker auch ruhige Zeiten während des Jahres, und es gab noch Rückzugsorte, an denen keine Pollen flogen. Jetzt leiden die Patienten fast das ganze Jahr über, und es gibt kein Entrinnen mehr.“ Tatsächlich ist die Zahl der Allergiker in den vergangenen 50 Jahren stark gestiegen. Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass in Deutschland mittlerweile bis zu 30 Millionen Menschen betroffen sind. „Der Klimawandel befeuert das Auftreten allergischer Beschwerden“, sagt Traidl-Hoffmann. Der Grund: Die Pollensaison beginnt früher, sie dauert länger, und es fliegen mehr Pollen umher. Durch die wärmeren Temperaturen siedeln sich zudem Pflanzen an, die früher in Mitteleuropa nicht heimisch waren, wie etwa die Ambrosia, deren Pollen extrem allergen sind.
Veränderte Lebensgewohnheiten und wärmere Temperaturen fördern Allergien
Hinzu kommen weitere Umweltfaktoren: Ist die Luft verschmutzt, reizt sie die Atemwege und macht sie anfälliger für Erkrankungen. Gleichzeitig erhöhen veränderte Lebensgewohnheiten das Risiko für Allergien. „Wir sehen immer mehr Kinder, die an Heuschnupfen und Neurodermitis leiden“, sagt Traidl-Hoffmann. „Dabei wissen wir, Kinder, die auf dem Land unter traditionellen Lebensbedingungen aufwachsen, entwickeln viel seltener Allergien als Stadtkinder.“ Die Zusammenhänge von Klimawandel, Naturzerstörung und Gesundheit hat Traidl-Hoffmann nun zusammen mit der Journalistin Katja Trippel in dem Buch „Überhitzt“ beschrieben, das im Mai im Dudenverlag erscheinen wird.
Doch der Fokus auf das Wechselspiel von Umweltveränderungen und Krankheiten ist trotz der bedrohlichen Prognosen eine recht junge und wenig ausgebaute Sparte der Wissenschaft. „Die Akteure im Gesundheitswesen haben den Klimawandel lange kaum beachtet. Und die Klima- und Umweltwissenschaftler haben die Bezüge zur Gesundheit vernachlässigt“, sagt Sabine Gabrysch, Epidemiologin und seit 2019 Professorin für Klimawandel und Gesundheit an der Charité-Universitätsmedizin Berlin und am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Sie verfolgt das transdisziplinäre Konzept „Planetary Health“, das die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Erde in den Mittelpunkt stellt und einen gesunden Planeten als Voraussetzung für die menschliche Gesundheit betrachtet.
Wie drängend das Thema ist, zeigt die Corona-Pandemie. „Sie führt uns vor Augen, wie eng Ökosysteme und Gesundheit miteinander verbunden sind und wie verletzlich unsere Gesundheit ist“, sagt Gabrysch. Laut einem aktuellen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) ist bereits etwa ein Viertel der globalen Krankheitslast – gemessen an gesunden Lebensjahren, die durch Krankheit oder vorzeitigen Tod verloren gehen – auf gefährdende Umweltfaktoren wie etwa Luft- und Wasserverschmutzung und giftige Chemikalien zurückzuführen. Die Veränderungen der Ökosysteme und das Vordringen der Menschen in geschützte Tierwelten erhöhen zudem das Risiko für neue Pandemien durch Erreger wie Sars-CoV-2. Zecken profitieren von warmem Wetter, von ihnen übertragene Infektionskrankheiten wie die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) und Borreliose breiten sich in Deutschland weiter aus. Durch die steigenden Temperaturen könnten künftig Krankheiten wie das Dengue-, Zika- oder West-Nil-Fieber hinzukommen.
„Die Corona-Pandemie ist ein Weckruf“, sagt Gabrysch. „Wenn wir die ökologische Zerstörung weiter so betreiben, schlittern wir in immer neue Krisen, die sich gegenseitig verstärken.“ Dies könne zu Konflikten um knappe Ressourcen, zu politischer Destabilisierung und zu Migrationsbewegungen führen. „Damit unsere Lebensgrundlagen nicht weiter untergraben werden, sollte der Schutz des Klimas und unserer Ökosysteme höchste Priorität haben.“ Umso überraschender sei es, dass diese Themen im Gesundheitssektor bisher kaum eine Rolle spielten. „Eine hoch entwickelte Medizin allein reicht nicht aus, um unsere Gesundheit zu erhalten“, warnt Gabrysch. In vielen Ländern der Erde hat sich die Gesundheitsversorgung für Millionen Menschen in den vergangenen Jahrzehnten stark verbessert. Die Lebenserwartung ist stetig gestiegen, auch dank der hochentwickelten Medizin und ihrer rasanten Fortschritte. Doch die Erderwärmung, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden und der Verlust der Artenvielfalt drohen, die bisher erreichten Erfolge zunichte zu machen.
„Es ist erstaunlich, wie wenig Beachtung die Gesundheit im Kontext des Klimawandels findet“, sagt auch der Mediziner Martin Herrmann, Vorsitzender des Netzwerks „Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit“ (KLUG). Dabei hatten Wissenschaftler in der Fachzeitschrift The Lancet bereits 2009 den Klimawandel als die größte Bedrohung für die globale Gesundheit des 21. Jahrhunderts bezeichnet. …
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