Die Chirurgie galt lange als Männerdomäne. Das ändert sich zwar langsam, trotzdem sind Frauen in dem Fach immer noch deutlich unterrepräsentiert. Natascha C. Nüssler von der München Klinik in Neuperlach ist eine der wenigen chirurgischen Chefärztinnen. Am Mittwoch ist sie zudem als erste Frau zur Vize-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) gewählt worden. Damit rückt Nüssler in zwei Jahren automatisch zur Präsidentin der Fachgesellschaft auf, der mehr als 5000 Mitglieder angehören. Im Interview spricht die 53-jährige Professorin und dreifache Mutter über Chirurginnen, die in Teilzeit arbeiten, über ihre Begeisterung für den Beruf und über die Gründe, warum in Deutschland nicht zu viel, sondern zu wenig operiert wird.
SZ: Sie sind Chirurgin, Chefärztin und nun die erste Vize-Präsidentin der DGAV. Als Frau sind Sie damit in Deutschland eine Ausnahme. Wird es Ärztinnen im OP-Saal immer noch schwer gemacht?
Natascha C. Nüssler: Nein, das glaube ich nicht. Die Zeiten, in denen Frauen in der Chirurgie ein großes Problem hatten, sind in den meisten Kliniken zum Glück vorbei. Die überwiegende Zahl der Medizinstudierenden sind ja mittlerweile weiblich.
Aber?
Leider interessieren sich aber nur wenige Frauen für die Chirurgie. Die, die eine Facharztausbildung bei uns machen, sind genauso engagiert wie ihre männlichen Kollegen, aber sobald sie ein Kind bekommen, setzen sie erst einmal eine Zeit lang aus und kommen häufig nur in Teilzeit wieder. Ich glaube nicht, dass die Benachteiligung von Frauen in der Chirurgie komplett verschwunden ist, aber das viel größere Problem ist, dass wir nicht genug Frauen haben, die auch Führungspositionen übernehmen wollen.
Wären Führungspositionen in Teilzeit eine Option?
Wenn Frauen eine Führungsposition einnehmen wollen, ist das mit reduzierter Arbeitszeit schwierig. Sie brauchen eine gewisse Zahl von Stunden, bis sie ihr Fach beherrschen. Besonders in der Chirurgie hängt vieles von Erfahrung ab. Die gewinnen sie nur, wenn sie viele Patienten gesehen haben. Bis sie überhaupt eine Führungsaufgabe übernehmen können, dauert es nach dem Studium noch einmal zehn Jahre – wenn sie Vollzeit arbeiten. In Teilzeit dauert das noch viel länger.
Müssen sich also die Strukturen in den Kliniken ändern?
Es müssten sich eher die Strukturen in den Köpfen ändern. Familienbetreuung gilt in Deutschland weiterhin als Aufgabe der Mütter. Wenn irgendwo darüber gesprochen wird, dass in einem Bereich mehr Frauen arbeiten, heißt es immer, wir müssen flexiblere Arbeitszeiten einführen. Auch die Väter sind gefordert, sich mehr zu beteiligen. Meist machen die Mütter ein Jahr Elternzeit, die Väter machen zwei Monate, und in der Zeit fahren alle zusammen in Urlaub. In der Regel kommen die Mütter dann in Teilzeit wieder. Der Wunsch, eine Führungsaufgabe zu übernehmen, gerät in Konflikt
mit der Vorstellung, dass Vollzeitarbeit – und damit das Kind acht Stunden am Tag fremdbetreuen zu lassen – eine Vernachlässigung des Kindes bedeutet.
Sie haben selbst drei Kinder, sind jedes Mal drei Monate nach der Geburt wieder in Vollzeit in die Klinik zurückgekehrt. Haben Sie sich deswegen oft Vorwürfe anhören müssen?
Besonders von Frauen wurde mir vorgeworfen, dass ich eine Rabenmutter sei. Wie kannst du deine Kinder allein lassen! Ich habe immer geantwortet, die Kinder haben auch einen Vater. Als ich 2007 von Berlin nach Bayern zog, bekam ich es noch deutlicher zu spüren. Hier in der Grundschule war ich fast die einzige Mutter, die in Vollzeit gearbeitet hat.
Was würden Sie jungen Medizinerinnen raten?
Hartnäckig das zu verfolgen, was sie erreichen wollen und sich davon auch nicht abhalten zu lassen. Viele Frauen haben Sorge, sie könnten ihren Kindern nicht gerecht werden, wenn sie Vollzeit arbeiten. Es ist ja nicht Faulheit oder Bequemlichkeit, die sie zu Hause hält, sondern der Wunsch, ihre Kinder optimal zu versorgen. Ich halte das für völlig legitim. Ich habe viele Mitarbeiterinnen, die in Teilzeit arbeiten. Und wenn sie damit zufrieden sind, ist das wunderbar. Ich freue mich auch über jede meiner Mitarbeiterinnen, die ein Kind bekommt. Gleichzeitig ist man aber keine schlechte Mutter, nur weil man Vollzeit arbeitet. Dieser Irrglaube ist ein gesellschaftliches Problem. Wenn Sie in andere Länder schauen, nach Dänemark oder Frankreich, da herrscht eine ganz andere Akzeptanz. Da würde es auch niemanden mehr interessieren, dass ich als Frau jetzt zur Vize-Präsidentin gewählt bin.
Mit 35 Jahren wurden Sie Oberärztin, mit 41 Jahren Chefärztin. Haben Sie auch die gläserne Decke erlebt?
Ja, die gläserne Decke gibt es schon noch.
Wo haben Sie die zu spüren bekommen?
Mein früherer Chef war eher etwas konservativ eingestellt. Er konnte sich für Frauen mehr als Oberarztniveau nicht gut vorstellen. Sicherlich gibt es auch weiterhin Kliniken, in denen es Frauen deutlich schwerer haben als ihre männlichen Kollegen. Aber ich glaube, dass Frauen es sich auch selber schwer machen, indem sie sich aus der Klinik zurückziehen und in Teilzeit arbeiten.
Sind Sie für Ihre jungen Mitarbeiterinnen ein Vorbild – also im Hinblick, Familie und Karriere zu vereinbaren?
Das wäre schön, aber das habe ich bisher nicht erlebt. Ich habe jetzt die erste Mitarbeiterin, die nach der Geburt ihres Kindes in Vollzeit wiederkommt. Alle anderen sind in Teilzeit zurück in die Klinik gekommen. Frauen, die in Teilzeit arbeiten, übernehmen zu Hause oft auch mehr Aufgaben als ihre Männer. Und der Zeitbedarf für Kinder wächst ja noch, wenn sie in die Schule kommen. Dass in dieser Situation eine Mutter wieder aufstockt und in Vollzeit arbeitet, das habe ich noch nicht erlebt. Das Problem besteht auch darin, dass viele von Work-Life-Balance sprechen, als wären Arbeit und Leben zwei gegensätzliche Pole. Ich glaube, dass Arbeit ein integraler Bestandteil des Lebens ist, weil man auch viel Befriedigung und Bestätigung aus der Arbeit ziehen kann.
Es wird aber offenbar immer schwieriger, junge Mediziner für die Chirurgie zu begeistern. Stellen bleiben unbesetzt. Warum ist das Image unter Medizinern so schlecht?
Weil immer noch das Bild vom Chirurgen vorherrscht, der nur in der Klinik ist, nonstop arbeitet und nie seine Familie sieht. Aber das ist nicht mehr aktuell. Wir haben sehr strukturierte Arbeitszeiten, versuchen, dass unsere Mitarbeiter so wenig Überstunden wie möglich machen. Und wenn jemand sein Kind abholen muss, lässt sich das immer organisieren. Natürlich dauert eine OP mal länger, aber wenn jemand gehen muss, wird er oder sie eben abgelöst. Die langen Arbeitszeiten, die wir früher hatten, und die zum Teil auch nicht vergütet wurden, die gibt es nicht mehr. Wir müssen das negative und angstbeladene Bild der Chirurgie wieder geraderücken. Es ist ein sagenhaftes Gefühl, wenn man einen schwerkranken Patienten operiert hat, der gesund nach Hause geht.
In kaum einem Land wird so viel operiert wie in Deutschland. Greifen Chirurgen hierzulande zu schnell zum Messer?
Im Gegenteil, wir operieren viel zu wenig. Beispielsweise operieren wir im Vergleich zu unseren Nachbarländern viel zu wenig übergewichtige Patienten oder Patienten mit Lebermetastasen, das heißt, mit Absiedlungen von bösartigen Tumoren. Wir sind ein reiches Land und haben Patienten, die optimale Behandlungen einfordern. So wollen heute die 70-Jährigen nicht am Stock gehen, sondern noch Ski und Fahrrad fahren und brauchen deswegen häufiger als früher ein künstliches Hüft- oder Kniegelenk. Die Erwartungshaltung in der Medizin ist einfach gestiegen.
Sind also all die Berichte darüber, dass zu viel und zu schnell operiert wird, dann falsch?
Ich würde mir nicht anmaßen zu sagen, dass dies generell eine falsche Annahme ist. Aber ich glaube, dass Chirurgie zu oft nur als letzte Option angesehen wird. Und das ist falsch. Die Operation wird viel zu selten eingesetzt und viele Patienten haben Angst davor. Gerade bei Krebserkrankungen wird immer nur berichtet, welche neuen Medikamente es gibt. Dagegen kann man die meisten soliden Tumore nicht alleine mit Medikamenten, sondern nur mit einer Operation heilen. Häufig wird dem Patienten gesagt: Wir haben bei Ihnen einen bösartigen Tumor festgestellt, der muss leider operiert werden. Eigentlich müsste man ihnen sagen: Zum Glück können wir den Tumor operieren.