Svea hat eine Maschine, die Blut aus ihrem Herzen saugt und es durch Schläuche wieder in ihren Körper pumpt. Foto: Catherina Hess

Ausgeliefert

Süddeutsche Zeitung, Seite 3

Würde man die Jalousie hochziehen, könnte man die Alpen sehen. Aber die Jalousie bleibt geschlossen, die Sonne würde den Raum nur weiter aufheizen. Seit zwei Monaten darf die Tochter die Klinik nicht verlassen. Seit zwei Monaten ist auch die Mutter sehr oft hier.

Svea heißt das Kind, zwei Jahre alt, sie trägt ein geblümtes Kleid. Aus ihrer Brust hängt ein Gerät, das bei jedem Schritt gegen ihre kleinen Beine schlägt. Es saugt Blut aus dem Herzen und pumpt es durch Schläuche wieder in ihren Körper zurück. Tagsüber. Nachts. Sveas Herz allein hat nicht genug Kraft dazu.

Die Pumpe ist eine Notlösung, eine Rettung auf Zeit. Svea braucht ein neues, ein gesundes Herz. Seit eineinhalb Jahren wartet sie auf ein Spenderorgan. Sie kann nur überleben, wenn ein anderes Kind stirbt. Wenn die Eltern die Organe ihres toten Kindes spenden. Und wenn das Herz dann auch zu ihrem Körper passt.

München, Klinikum Großhadern, neunter Stock, Kinderstation. Sveas Zimmer ist krankenhausgrau, in der Mitte ein Gitterbett, überall Schläuche, Kabel, Monitore. „Willst du ins Spielzimmer?“, fragt die Mutter. Die Tochter tappt los. Aber so schnell wie sie möchte, geht es nicht. Svea ist über Schläuche mit einer Maschine verbunden, die „Berlin Heart“ heißt. Sie ist so groß wie ein Einkaufswagen, surrt gleichmäßig. „Warte, ich muss dein Herz erst drehen“, sagt die Mutter, zieht den Stecker, dreht die Maschine und rollt sie hinter ihrer Tochter her.

Niemand weiß, wann und ob Svea die Klinik lebend verlassen wird. Vielleicht wird es einige Wochen dauern. Vielleicht Monate oder Jahre. Je länger sie mit dem künstlichen Herz lebt, desto größer ist die Gefahr, dass Komplikationen auftreten. Die Eltern möchten nicht, dass ihre Namen in der Zeitung stehen. Man weiß nicht, wie die Menschen darauf reagieren, sagen sie. Das Thema Organspende ist umstritten, emotional. Etwa 10 000 Menschen in Deutschland warten gerade auf ein lebensrettendes Organ. Die Zahl der Spender aber geht seit Jahren zurück. 2017 gab es 797 Organspender in Deutschland. 2010 waren es 1296 gewesen. Im ersten Halbjahr 2018 ist zum ersten Mal seit Langem ein kleiner Anstieg zu verzeichnen.

Mutter und Tochter verbringen die Tage zwischen Gitterbett und Magensonde

Die Regierung hat versprochen, die Situation zu verbessern. Bisher gilt in Deutschland: Nur wer einen Spenderausweis ausgefüllt hat, dessen Organe dürfen entnommen werden. Wer nicht ausdrücklich Ja gesagt hat, überlässt nach dem Tod den Verwandten die Entscheidung. Vergangene

Svea ist zwei Jahre alt und wartet seit eineinhalb Jahren auf ein Spenderorgan. Ihre Mutter weiß: die Tochter kann nur überleben, wenn ein anderes Kind stirbt. Und wenn die Eltern die Organe ihres toten Kindes spenden. Antonia war drei Jahre alt, als sie bei einem Autounfall verunglückte. Die Ärzte fragten ihre Eltern, ob sie die Organe ihrer Tochter spenden möchten.

Woche sprach Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sich nun für die sogenannte Widerspruchslösung aus. Damit würde jeder Verstorbene automatisch zum Organspender, es sei denn, er oder seine Angehörigen haben sich dagegen ausgesprochen. Auch dieser Vorschlag ist umstritten, Gegnern geht es vor allem um die Fragen: Wann ist ein Mensch wirklich tot? Und ist dann nicht jeder, der zu Lebzeiten nicht widerspricht, als Verstorbener ein Ersatzteillager?

Auf der Kinderstation in Großhadern ist es Mittag. Auf dem einen Arm trägt die Mutter Svea ins Krankenbett. Mit der freien Hand schiebt sie die Maschine. Manchmal wird sie wütend, immer wieder stellt sie sich dann die gleichen Fragen. Warum wir? Warum unser Kind? Dann ist es noch schwerer zu ertragen, wenn Freunde im Internet Fotos posten, von Familienausflügen, vom Freibadbesuch. Von der Unbeschwertheit ihres Alltags.

Die Mutter verbringt die Tage mit ihrer Tochter zwischen Gitterbett und Spielzimmer, zwischen Magensonde, Medikamentendosen, Infekt-Parametern. Wie oft stand sie schon mit ihrem Mann am Kinderbett und wusste nicht, ob Svea die Operation oder den Infekt dieses Mal überleben würde. „Insgesamt geht es seit zwei Jahren stetig abwärts“, sagt sie. Und sie kann nichts dagegen tun.

Am Kopfende von Sveas Gitterbett sitzt ein Löwe, er hat ein künstliches Herz, ein gehäkeltes. Neben ihm liegen fünf weitere Stofftiere. Für jede OP eins. Sechs Mal wurde das Mädchen operiert, mehrere Male musste ihr Brustkorb geöffnet werden. Das sind die Momente, in denen die Mutter keine Kraft mehr hat. Sie würde dann gern wegrennen, aber das geht nicht. Wenn sie nicht arbeitet, ist sie in der Klinik, ihr Mann auch, die Großmütter kommen abwechselnd, aus Nordrhein-Westfalen. Ohne diese Hilfe würde das alles nicht funktionieren.

Die Schwangerschaft mit Svea, die Geburt, alles normal, sagt die Mutter. Sie freuten sich auf das Kind. Zwei Wochen nachdem Svea auf die Welt gekommen war, fiel der Hebamme auf, dass etwas nicht stimmte. Herzmuskelschwäche, sagten die Ärzte. Die Erkrankung kann angeboren sein oder durch einen Virus ausgelöst werden. Im Februar 2017 war klar, dass Svea nur überleben kann, wenn sie ein neues Herz bekommt. Das Mädchen wurde auf die Transplantationsliste bei der Stiftung Eurotransplant gesetzt. Sie verteilt Spenderorgane in acht europäischen Ländern.

Das erste Jahr nach der Geburt hatten die Eltern noch gehofft, dass Svea es ohne ein fremdes Herz schaffen würde, nur mit Operationen und Medikamenten. In dieser Zeit hatten sie bei anderen Familien in der Klinik erlebt, wie zermürbend das Warten auf ein Spenderorgan ist. „Das Schlimmste ist die Ungewissheit“, sagt die Mutter.

257 Herzen wurden im vergangenen Jahr in Deutschland transplantiert. Im selben Zeitraum wurden 429 Patienten, die ein fremdes Herz benötigen, neu auf die Warteliste gesetzt. Organe für Kinder zu finden, ist besonders schwierig. Sie können die nur von Spendern erhalten, die etwa gleich viel wiegen. Vor allem aber sind Organspenden bei Kindern ein Tabu.

Der Arzt will jedes Kind retten. Manchmal schafft er das nicht

Schon Erwachsene machen sich nur ungern Gedanken darüber, was passiert, wenn sie sterben. Soll mein Herz in einem anderen Körper weiterschlagen? Soll jemand mit meinen Augen sehen? Der Tod eines Kindes ist das Entsetzlichste, was sich Eltern vorstellen können. Und dann sollen sie darüber nachdenken, ob sie die Organe ihrer Tochter oder ihres Sohnes spenden?

Nikolaus Haas, 53, leitet die Kinderklinik in Großhadern, er kennt die Tragödien hinter den Fragen. Der Arzt begrüßt Svea herzlich, als er in ihr Zimmer kommt. An seinem weißen Kittel hat er zwei Anstecker über dem Herzen. Einer ist ein bunter Nikolaus, den er das ganze Jahr trägt, der andere hat die Form eines Lebkuchenherzens, auf dem „Chef“ steht.

Der Kinderkardiologe trifft jeden Tag Familien, die verzweifelt auf ein neues Organ warten. Bei ihm werden verunglückte Kinder auf die Intensivstation eingewiesen, die er und seine Kollegen zu retten versuchen. Manchmal schaffen sie es nicht. Dann können sie den Patienten vielleicht wiederbeleben, sodass das Herz wieder schlägt und die Lunge wieder atmet. Wenn der Kopf aber solche Schäden erlitten hat, dass die Gehirnzellen unwiderruflich tot sind, kann der Körper nur noch mit Maschinen am Leben gehalten werden.

„Das Gehirn macht den Menschen zum Menschen. Wenn es nicht mehr funktioniert, ist der Mensch tot“, sagt Nikolaus Haas. Bevor die Maschinen bei einem hirntoten Patienten abgestellt werden, können Ärzte Organe wie Herz, Lunge, Niere und Leber entnehmen. Es ist der einzige Zustand, in dem das möglich ist. Es ist auch der Zustand, in dem er die Eltern fragen muss, ob sie die Organe ihres Kindes spenden. „Es sind die denkbar schlechtesten Ausgangsbedingungen für ein Gespräch“, sagt Nikolaus Haas. Extreme Stresssituation. Tod des eigenen Kindes. „Aber es ist unsere Aufgabe als Ärzte. Natürlich sage ich allen Eltern lieber, wir haben ihr Kind gerettet.“ Haas hat schon viel erlebt. Ein Kind musste acht Tage auf ein neues Herz warten. Ein anderes drei Jahre. Und er hatte junge Patienten, die gestorben sind. Sie mussten zu lange warten.

Zwischen 2015 und 2017 sind in Bayern 2040 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren gestorben. Im selben Zeitraum gab es bayernweit nur 27 Organspender in dieser Altersgruppe. Nicht jedes tote Kind kommt als Spender infrage. Aber im Klinikum Großhadern haben in dieser Zeit immerhin sieben Familien Organe ihrer Kinder gespendet, von insgesamt 38 verstorbenen Kindern und Jugendlichen, das sind fast 20 Prozent. Und es ist nur eine von vielen Intensivstationen.

Nikolaus Haas geht davon aus, dass in jeder Klinik so viele Familien spenden würden, aber: „Ich bin mir sicher, dass die meisten Angehörigen nicht gefragt wurden.“ Er will das nicht hinnehmen. Deshalb wirbt er in anderen Kliniken dafür, bei anderen Ärzten. Sie sollen das Thema immer ansprechen, auch bei Eltern, die gerade ihr Kind verloren haben.

Im vergangenen Jahr konnten Nikolaus Haas und seine Kollegen die dreijährige Antonia nach einem Autounfall nicht mehr retten. Sie fragten die Eltern, ob sie die Organe ihres Kindes spenden würden. Die Eltern von Antonia – sie sollen in dieser Geschichte Karla und Jens Meier heißen, auch ihre Kinder haben andere Namen – wohnen in einem Reihenhaus im Umland von München. Im Wohnzimmer parkt ein Kinderrollstuhl, auf der Fensterbank stehen Bilder. Ein Foto ist an Fasching aufgenommen worden, Antonia trägt ein Prinzessinnenkleid. Blonde Locken, goldene Krone. Sie strahlt. „Antonia ist immer bei uns“, sagt ihre Mutter.

Sie sprachen darüber, dass sie ihre Organe spenden würden. Über die der Tochter sprachen sie nicht

Es war ein Freitagnachmittag, vor etwas mehr als einem Jahr. Karla Meier wollte ihre Tochter zu einem Kindergeburtstag fahren. Sohn Leo saß mit im Auto. Eine Fahranfängerin fuhr zu schnell auf die Auffahrt einer Landstraße und geriet aus der Kurve. In diesem Moment fuhr Karla Meier mit ihren Kindern vorbei. Noch heute fragt sie sich: Würde Antonia noch leben, wenn ich Windeln geholt hätte, wenn ich schneller oder langsamer gefahren wäre, nur ein bisschen? Würde ihr Sohn dann nicht querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzen? Leo, damals 15 Monate alt, hatte gerade angefangen zu gehen.

An der Wand hängt ein weiteres Foto von Antonia, aufgenommen kurz nach der Geburt. „Sie war ein gesundes Kind, 2600 Gramm“, sagt ihr Vater. Ihm versagt die Stimme, wenn er von diesem Freitag spricht. Er kam von der Arbeit, als die Polizei und das Kriseninterventionsteam vor dem Haus der Familie standen. Seine Frau hatte schwere Verletzungen, aber ihr Zustand war stabil. Leos Situation war noch unklar. Die Ärzte aus Großhadern, die Antonia behandelten, sagten, sie würden alles

versuchen, um sie zu retten. Sie konnten sie nicht mehr retten. Dann sprachen sie den Vater auf die Organspende an.

Die Eltern haben ein bis zwei Tage Zeit, um sich zu entscheiden. „Wir reden mehrmals mit ihnen“, sagt Nikolaus Haas, der Kinderkardiologe. Dafür brauche es Erfahrung und Feingefühl. Viel Zeit, viel Geduld. Drängen wollen die Ärzte niemanden. Aber jede Mutter und jeder Vater sollte es sich gut überlegen. Viele Eltern würden sogar erleichtert reagieren, sagt Nikolaus Haas. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Familien, die Organe spenden, den Tod ihres Kindes später besser verarbeiten können.“

Der Vater sah Antonia auf der Intensivstation liegen, die Augen geschlossen, die Maschinen surrten. Er konnte und wollte nicht begreifen. Sie war so ein fröhliches Kind gewesen. Im Wald hat sie die Bäume umarmt. Dann hat er Ja gesagt.

Jens Meier und seine Frau hatten vor dem Unfall darüber gesprochen, dass sie ihre Organe spenden würden. Aber darüber, dass ihr Kind vor ihnen sterben könnte, und dass sie dessen Organe spenden würden – darüber hatten sie nie geredet.

Im Wohnzimmer steht Karla Meier auf, nimmt Leo aus dem Kinderstuhl, hebt ihn in einen Rollstuhl. „Nein, gezweifelt haben wir nie an der Entscheidung“, sagt sie. „Ich bin so stolz auf mein Kind. Antonia hat mit drei Jahren etwas gemacht, das schaffen viele ihr ganzes Leben nicht. Sie hat zwei Kindern das Leben gerettet.“ Ein Säugling hat ihre Leber bekommen. Ein Jugendlicher ihre Niere. „Vielleicht hat das Kind jetzt ein Faible für Schokomousse“, sagt sie. „Antonia liebte Schokomousse.“

Im Klinikum Großhadern vergehen die Tage, der Zustand von Svea bleibt unverändert, die Mutter verzweifelt. Aber sie weiß, dass sie die Hoffnung nicht verlieren darf. Sie hat ihr Handy immer dabei, immer eingeschaltet, auch nachts, neben ihrem Bett. Der Anruf könnte jederzeit kommen. Vor den Fenstern landet ein Rettungshubschrauber. Jedes Mal, wenn die Mutter das Motorengeräusch hört, denkt sie, er bringt das neue Herz für ihr Kind. Dabei weiß sie, dass es so nicht abläuft. Die Ärzte würden anrufen, falls bei Eurotransplant ein passendes Herz gemeldet werden würde. Aber trotzdem.

Die letzte halbe Stunde ist die schlimmste für die Mutter

Es ist ein Donnerstag, die Mutter arbeitet im Spätdienst, als kurz vor Mitternacht ihr Handy klingelt. Ein Arzt aus dem Klinikum Großhadern. Es gibt eine Organspende. Ein Herz. Es könnte vielleicht für Svea passen. Die Mutter nimmt ein Taxi. Sie weiß, dass sie sich nicht zu früh freuen darf. Dass jetzt erst mal Ärzte aus München in die Klinik fliegen, in der das Kind gestorben ist, irgendwo in Europa. Das Land, der Ort, die Namen, alles anonym. Niemand soll nachvollziehen können, wessen Organ an wen gegangen ist. Die Ärzte untersuchen das Herz, ob es in Ordnung ist. Dann entnehmen sie es.

Svea muss noch mal untersucht werden und schläft nicht mehr ein, sie spürt die Aufregung ihrer Eltern. Um fünf Uhr am nächsten Morgen wird sie in den Operationssaal geschoben. Wieder warten. Die Ärzte sind mit dem neuen Herz noch unterwegs. Sobald sie gelandet sind, beginnen die Chirurgen, Sveas Brustkorb zu öffnen. Die letzte halbe Stunde ist die schlimmste für die Mutter. Was, wenn ihre Tochter wieder in ihr Zimmer gebracht wird? Wenn es nicht klappt mit dem Herzen?

Die Operation dauert fast zwölf Stunden. Sie verläuft gut. Am Abend nach der Operation denkt die Mutter an die Eltern, die jetzt am Bett ihres toten Kindes sitzen und trauern. Die sich in dieser schweren Stunde zu einer Spende entschlossen haben. Sie ist dankbar, sagt sie, unendlich dankbar.

Wenige Tage später bringt eine Pflegerin Svea zurück auf die Station im neunten Stock. Das Mädchen liegt auf dem Rücken, die Augen sind geschlossen, der Oberkörper ist nackt. In der Brust klafft eine etwa 15 Zentimeter lange offene Wunde, mit einer durchsichtigen Folie abgedeckt. Die Mutter hat die vergangenen Nächte kaum geschlafen, sie hat dunkle Augenränder. Aber sie sieht glücklich aus. Langsam geht sie auf Svea zu, bleibt am Bett stehen, streichelt ihr über den Arm. Dann beugt sie sich vor und küsst sie auf die Wange.

Vier Wochen später. Die Mutter schiebt Svea im Kinderwagen durch den Patientengarten. Sie braucht noch eine Magensonde, hat abgenommen, ist schwach und sehr ängstlich. Ein ganz gesundes Kind wird sie nie werden. Sie wird immer Medikamente nehmen müssen und regelmäßig kontrolliert werden. Und irgendwann wird sie auch wieder ein neues Herz benötigen. Aber ihre Chancen sind gut, ein relativ normales Leben führen zu können. „Endlich“, sagt die Mutter, „können wir nach vorne schauen und Pläne machen.“ In vielleicht ein, zwei Wochen, wenn Svea keine Magensonde mehr braucht, dürfen sie die Klinik verlassen – und mit ihrer Tochter nach Hause.