Ein Kleinkind wurde in der Nacht mit einem Fieberkrampf eingeliefert. Und ein schwer kranker Junge mit Atemnot. War noch etwas? Die Ärztin überlegt kurz. Ach ja, auf der Intensivstation sind alle Betten belegt. „Deswegen habe ich uns abgemeldet“, sagt sie. Ihre beiden Kollegen nicken. „Vielleicht werden heute zwei Kinder von der Intensivstation verlegt.“ Dann gäbe es im Laufe des Tages wieder freie Betten. Vielleicht aber auch nicht.
Eine Kinderklinik in München. Morgendliche Übergabe der Nachtschicht an den Tagesdienst. „Dass wir morgens ein freies Bett haben, kommt nur sehr selten vor“, sagen die Ärzte. Können sie keinen Patienten mehr aufnehmen, melden sie sich bei der Rettungsleitstelle ab. Besonders im Winter sind alle Kinderkliniken in München ständig überlaufen und abgemeldet. Fällt dann ein Kind vom Klettergerüst, hat einen schweren Infekt mit Atemnot oder wird vom Auto angefahren, müssen die Ärzte und Pfleger improvisieren. Herumtelefonieren, um noch irgendwo ein freies Bett zu finden.
Die Ärzte, die bei der Übergabe dabei sind, möchten nicht mit Namen genannt werden. Klinikleitungen sehen es nicht gern, wenn ihre Mitarbeiter öffentlich darüber sprechen, wie dramatisch die Situation ist. Das beunruhige Eltern, schrecke potenzielle Fachkräfte ab und würde die Klinik in ein schlechtes Licht rücken. Dabei kämpfen alle Kinderkliniken in München mit den gleichen Schwierigkeiten. Voll ausgestattete Betten stehen leer und sind gesperrt, weil Pflegekräfte fehlen. Während kranke Kinder nicht immer so versorgt werden können, wie es für sie das Beste wäre.
„Die medizinische Versorgung von Kindern in unseren bayerischen Krankenhäusern ist insgesamt nach wie vor auf hohem Niveau gesichert“, sagt Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). Und tatsächlich sehen die Zahlen nicht schlecht aus: In München gibt es insgesamt etwa 700 Betten in der Jungend- und Kindermedizin und Kinderchirurgie. Die waren 2018 durchschnittlich nur zu etwa 80 Prozent ausgelastet. Allerdings sagt das auch nicht viel aus über die tatsächliche Versorgung. Denn mitgezählt werden dabei auch die gesperrten Betten. Wer ein Viertel seiner Betten wegen Personalmangels schließen muss, kann auch nur eine maximale Auslastung von 75 Prozent erreichen. Und wird ein ansteckendes Kind in ein Mehrbettzimmer gelegt, darf kein anderer Patient dort liegen.
Wenn in München keine der vier Kinderkliniken mehr Patienten aufnehmen kann, fragen die Ärzte in Augsburg, Garmisch-Partenkirchen oder Starnberg an. Dann werden die Patienten mit dem Rettungswagen oder dem Hubschrauber dorthin gebracht. Das kommt besonders während der Grippesaison regelmäßig vor. Im Stich gelassen wird niemand. Aber die lange Suche, das Hin- und Herschieben zwischen den Stationen und den Kliniken erhöht das gesundheitliche Risiko für die Kinder, ist für alle Beteiligten stressig und kostet die Ärzte und Pfleger viel Zeit.
„Wenn wir nirgendwo ein Bett finden oder es ganz akut ist, muss man triagieren“, sagt ein Arzt. Triage, das Wort hört man häufig in Kinderkliniken. Kranke Kinder werden nach Schweregrad sortiert. Weil überall Kapazitäten fehlen. Wie bei diesem Baby: Es war erst wenige Tage alt, als es mit Atemnot in eine Münchner Notaufnahme gebracht wurde. Die Intensivstation war bereits überbelegt. „In so einer Situation kann ich ein Neugeborenes nicht in eine andere Klinik weiterschicken“, sagt der Arzt, der an dem Tag in der Notaufnahme war. Damit er das Kind aufnehmen konnte, musste er ein anderes Kind von der Intensiv- auf die Normalstation verlegen. Eines, das weniger schwer krank war, das im Idealfall aber auch noch eine Nacht auf der Intensivstation geblieben wäre.
„Dass die Versorgung schlechter geworden ist, ist unbestreitbar“, sagt auch Stefan Burdach, Direktor der Kinderklinik Schwabing, die von der städtischen München-Klinik und dem Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität (TU) getragen wird. Der Chefarzt betont, dass er keine Panik schüren möchte. „Unsere Krankenhausträger engagieren sich enorm. Aber es ist nicht verständlich, dass es für die reichste Stadt Deutschlands keine Lösung für die Probleme bei der Versorgung kranker Kinder gibt“, sagt er. Burdach könnte auf der Stelle 20 weitere Krankenpfleger einstellen, wenn es sie nur gäbe.
Der Grund für die Situation ist aber keineswegs nur der Mangel an Krankenpflegern, die sich mit ihrem Gehalt die teuren Mieten in München nicht leisten können. Sondern auch das sogenannte DRG-System, nach dem die Krankenkassen abrechnen. Kindermedizinische Leistungen werden darin nicht aufwandsgerecht abgebildet. „Profitabel ist nur, wer immer mehr Patienten mit möglichst invasiven Maßnahmen in immer kürzerer Zeit abarbeitet“, sagt Florian Hoffmann, Sprecher der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Oberarzt am Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Kranke Kinder kann man aber nicht durchtakten. Wer sie behandelt, braucht viel Zeit und Geduld, muss Vertrauen aufbauen und meist auch noch die besorgten Eltern beruhigen.
„Legen Sie mal einem dreijährigen Kind eine Nadel“, sagt eine Ärztin aus einer Münchner Kinderklinik. Das ist viel aufwendiger, dauert länger und braucht mehr Personal als bei einem Erwachsenen. „Der Dienstplan ist sowieso schon wahnsinnig knapp kalkuliert. Im Nachtdienst kümmern sich bei uns zwei Schwestern um mehr als 20 Kinder.“ Sobald dann noch jemand krank oder schwanger werde, würde alles zusammenbrechen. „Wir haben nie genug Zeit für die Patienten und fühlen uns ständig überfordert“, sagt die Ärztin. „Hinzu kommt, dass immer mehr Eltern mit ihren Kindern wegen Bagatellen die Notaufnahme blockieren.“ Weil sie unsicher sind oder ihr Kinderarzt auch völlig überlaufen ist.
In München gibt es zahlreiche Privatkliniken. Keine einzige davon ist eine Kinderklinik. Kinder zu behandeln, ist im deutschen Gesundheitssystem nicht lukrativ. Und Abteilungen, die kaum Gewinne erzielen oder sogar defizitär arbeiten, zählen zum lästigen Anhängsel im Klinikverbund. Ihnen werden als erstes Personal und Ressourcen gekürzt. Schließlich stehen die Kliniken unter einem enormen wirtschaftlichen Druck.
Der ökonomische Wettbewerb in der Kindermedizin sei absurd, kritisiert Chefarzt Burdach. Die Kindermedizin hat neben dem extrem breiten Diagnosespektrum einen hohen Anteil an Notfällen und ist starken saisonalen Schwankungen unterworfen. „Sie kämen doch auch nicht auf die Idee, die Feuerwehr nur nach ihren Einsätzen abzurechnen. Sie muss einfach da sein. Ebenso wie die Kinderkliniken. Wir leisten Daseinsfürsorge.“
Auch Philipp Schoof erlebt in seiner Münchner Kinderarztpraxis täglich, dass es immer schwieriger wird, kranke Kinder stationär unterzubringen. „Das meiste fangen wir ja sowieso bei uns in den Praxen ab.“ Und das, obwohl die niedergelassenen Kinderärzte auch völlig überlaufen sind, die Zahl ihrer Patienten und Aufgaben stetig wächst und sie auch kein Personal mehr finden. „Wenn wir schließlich ein Kind in die Klinik einweisen, dann ist es wirklich dringend“, sagt Schoof, der auch Obmann des Berufsverbands für Kinder- und Jugendärzte ist. Früher hat er seine Patienten jeweils in der Klinik angemeldet. Heute muss er in schweren Fällen gleich den Rettungswagen rufen. „So viel Zeit haben wir dann nicht, dass wir alle Kliniken durchtelefonieren könnten, um sowieso überall nur Absagen zu erhalten.“
Dass der Druck in München wächst, bekommt auch Clemens Stockklausner, Chefarzt der Kinderklinik in Garmisch-Partenkirchen zu spüren. In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Patienten aus München ständig gestiegen. „Im letzten Winter kam jeden Tag ein Rettungswagen aus München zu uns“, so Stockklausner. Er helfe gerne im Rahmen seiner Möglichkeiten. Für ihn sei es auch noch einfacher, Pflegepersonal zu finden, da die Lebenshaltungskosten geringer sind als in München. Aber Stockklausner erlebt auch, dass es immer schwieriger wird, einen Platz für schwerkranke Kinder zu finden, die eine spezielle Behandlung wie beispielsweise eine Dialyse benötigen.
Gerade in München gibt es exzellente Spezialisten für Kinder. Doch auch viele dieser medizinischen Spezialangebote werden abgebaut. Mit der Konsequenz, dass Kinder überall immer länger auf Termine warten müssen. Das Klinikum der Technischen Universität hat vor zwei Monaten angekündigt, die Kinder- und Jugendpsychosomatik zu schließen. Und das, obwohl die Wartelisten lang sind und der Bedarf wächst. Aber die Abteilung habe eine „ungünstige Kosten-Erlös-Struktur“, so die Begründung.
„Wenn ich als gesunder Erwachsener Knieschmerzen habe, habe ich in München innerhalb von eineinhalb Stunden eine Kernspintomografie meines Knies“, sagt Tobias Feuchtinger. Der Professor leitet die onkologische Abteilung an der Haunerschen Kinderklinik. „Für ein schwer krebskrankes Kind, das eine Kernspintomografie braucht, muss ich Wochen bis Monate vorher um einen Termin auch noch kämpfen, weil keine schnellen Termine verfügbar sind.“ Spezialisierte kindermedizinische Expertise sei rar, weil sie sich finanziell nicht rentiere. „Das ist ein symptomatisches Beispiel dafür, wie die Kinderbedürfnisse im Medizinsystem zu kurz kommen“, so Feuchtinger.
Und die Situation wäre wohl noch viel dramatischer, wenn nicht Ärzte und Pfleger tagtäglich einen enormen persönlichen Einsatz aufbringen würden. „In den Kliniken arbeiten ohnehin viele Menschen mit viel Idealismus. Mittlerweile allerdings unter so großen wirtschaftlichen Zwängen, dass es gerade für die jüngsten Patienten lebensgefährlich werden könnte“, sagt Florian Hoffmann. Der Oberarzt am Haunerschen Kinderspital fordert, stellvertretend für viele: „Es muss jetzt sofort etwas passieren.“